Plus Maifeld Derby Mannheim 2024

Das war das Festival und der einzige Schönheitsfehler war ein kurzer Stromausfall

Das Maifeld Derby verwandelt Mannheim in eine kunterbunte Indie-Spielwiese. Tausende Musikfans trotzen drei Tage dem Miesepeter-Wetter.

01.06.2024 UPDATE: 04.06.2024 10:00 Uhr 15 Minuten, 44 Sekunden

Das südkoreanische Soundkollektiv Balming Tiger. Foto: www.jan-koegel.de

Von Sören S. Sgries
und Daniel Schottmüller

Als hätten es die Festivalmacher geahnt: "Herzlich willkommen beim verflixten 13. Maifeld Derby!", heißt es im Programmheft. Und tatsächlich: Perfekt startet dieses Festivalwochenende auf dem Mannheimer Maimarkt-Gelände nicht. Der Regen? Uff. Die düsteren Prognosen der Wetterfrösche hinterlassen bereits Spuren auf den Social-Media-Kanälen des Derbys, als noch gar kein Ton gespielt ist: "Tickets zu verkaufen!", heißt es in den Kommentarspalten erschreckend häufig. Sie wissen ja nicht, was ihnen entgeht auf diesem besten kleinen Festival, das Europa zu bieten hat!

> Local Heroes: Schöne Maifeldtradition ist es, Künstler, die vor der eigenen Haustüre rocken, einzuladen. Als allererster Act darf deshalb der Chor für Menschen, die nicht singen können – ja, die Mannheimer Anti-Sänger um Julia Alicka heißen wirklich so – die Besucher auf die akustischen Herausforderungen der kommenden Tage einstimmen.

Die augenzwinkernde Message: Schiefer wird’s nimmer. Und tatsächlich zeichnet die an der Popakademie studierende Heidelbergerin Piya nur wenige Minuten später ein feines Gegenbild zu den Kultschmetterern aus der Mannheimer Neckarstadt-West. Experimentelle Chansons mit metaphernschweren Texten erklingen am Parcours D’Amour. Im Zusammenspiel mit ihren drei Begleitern kreiert Piya musikalische Eleganz irgendwo zwischen Chopin, Laura Maly und Pink Floyd.

Indierocker von Yara. Foto: www.jan-koegel.de

Yaras Stärke liegt eher im Deftig-Abstrusen. Rodeoreiten auf einem Steckenpferd; ein Keyboarder, der zum Trommelwirbel der Schlagzeugerin einen Zauberwürfel löst und Dada-Texte wie "Ich bin Maler von Beruf, bin Lackierer von Beruf – ja, ja, ja, ja": Diese Band aus Heidelberg und Mannheim ist eine Wucht! Alleine die rauchig-flehentliche Stimme von Jakob Halamoda wird man, einmal gehört, so schnell nicht wieder los. Zum Glück! "Champagner aus dem Aschenbecher", skandieren die neugewonnen Fans, die am Samstag in Regenponchos, Gummi- und Wanderstiefeln durch die Pfützen tanzen. Das Lied zeigt, was die Lokalmatadoren auszeichnet: Raue Schale trifft bei Yara auf blubbrige Süße – Pop-Melodien auf Indierock-Attitüde. Das erinnert an AnnenMayKantereit, Faber oder Wanda. Dass die Newcomer dem Karlstorbahnhof bereits als Gringo-Mayer-Support einheizten, macht aber genauso viel Sinn. Der kleine Pfälzer hat vor einigen Jahren sein Derbydebüt gefeiert, bevor es für ihn auf große Deutschlandtour ging – man traut den Mittzwanzigern einen ähnlich rasanten Aufstieg zu.

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> Königinnen und Rebellinnen: Die Bühne als reine Männerdomäne? Was den großen Mainstream-Festivals immer wieder zum Vorwurf gemacht wird, war in Mannheim noch nie ein Problem. Und trotzdem soll die "Frauenquote" Erwähnung finden: Weil es dann nämlich doch auffällt, wie stark hier die Sängerinnen, Gitarristinnen, Schlagzeugerinnen oder Pianistinnen den Ton angeben.

Electropop-Avantgardistin Róisín Murphy. Foto: vaf

Beispielsweise in Person der "Queen of Electropop", Róisín Murphy. Die Irin gehört zu den bekanntesten Namen auf dem Derby-Plakat. Nach musikalischen Anfängen mit Marky Brydon im Dancefloor-Duo Moloko hat sie sich längst als Eigenmarke etabliert. "Hit Parade", ihr jüngstes Album, stieg in die Top Ten ein. Dementsprechend groß die Erwartungen, als sie am Freitagabend die Bühne betritt. Song um Song jagt die 50-Jährige dann ins brechend volle Palastzelt, begleitet von aufwendiger Videokunst auf den Bühnenbildschirmen, gerne auch mit Livecam. In beständig rotierendem Kostüm, zwischendurch auch mal mit Zylinder auf dem Kopf, dirigiert sie ihre Band durchs Set und flirtet dabei mit dem Publikum. Diese Frau weiß, was sie tut. Wäre es vermessen, sie als die "Madonna des Indie-Pop" zu feiern?

Aber nicht nur die perfekt durchchoreografierte Show gewinnt die Herzen. Es gibt auch "räudige" Auftritte, wie den der Philadelphia-Punkrockerinnen von Mannequin Pussy mit einer flehenden, predigenden, fluchenden Marisa Dabice am Bühnenrand. Erst gegen das Patriarchat wettern, dann die Gitarren brüllen lassen – auch das wird goutiert.

Oder, wieder ganz andere Stilrichtung, Hania Rani. Die Polin, eher als Meisterin sanfter Pianoklänge abgespeichert, bekommt zu bester Zeit am Samstagabend das große Zelt überlassen. Ob das gut geht? Und wie! Als die 33-Jährige in ihre "Wagenburg" aus Piano, Flügel und E-Pianos abtaucht, ist alles Drumherum vergessen. Rasende Finger, feine Loops, zarter Gesang, kongenial ergänzt von Ziemowit Klimek am Kontrabass: Das Palastzelt lässt sich in den Bann dieser Ausnahmekünstlerin ziehen.

> Internationale Vielfalt: Wer in die weltweite Indie-Szene hineinschnuppern möchte, ist beim Maifeld Derby sowieso am richtigen Platz. Arc de Soleil um den Schweden Daniel Kadawatha feiern Deutschlandpremiere. Aber auch die belgischen Brutus, Royel Otis aus Australien und britische Bands wie die guten, alten Vaccines oder die charmante Newcomerin Sophie May wissen das Rhein-Neckar-Delta für sich einzunehmen. Ein Ausrufezeichen der Originalität setzen schließlich Balming Tiger. Genüsslich macht sich das südkoreanische Kollektiv über die Konventionen des K-Pops her. Choreos und Rap-Parts gibt es auch bei diesen Raubkatzen – aber wie. Man meint in ihrer wahnwitzigen Performance Spuren von Martial Arts, The Prodigy und Run-D.M.C. zu erkennen. Angenehmer Nebeneffekt: Während die acht Berserker über die lila leuchtende Bühne wirbeln, entsteht so viel Hitze, dass kurz sogar die Regenwolken Reißaus nehmen.

Update: Dienstag, 4. Juni 2024, 09.53 Uhr


Riesenstimmung und Crowdsurfing bei den Lambrini Girls. Der dritte Tag des Maifeld-Derbys im Überblick. Foto: sös

Tag 3 des Maifeld Derby

Zum Finale des Maifeld Derby in Mannheim gab es feministischen Punkrock aus Philadelphia und türkisch-niederländische Lautenklänge.

Von Sören S. Sgries

Mannheim. Mit einem wunderbar trockenen "Lieber schlechtes Wetter als schlechte Bands" machen die Maifeld-Macher am Sonntagmorgen auf sich aufmerksam – und laden zum großen Finale des kleinen Festivals ein. Das steht tatsächlich recht unbeeindruckt da von den Wassermassen, die andernorts Flüsse über die Ufer treten ließen.

Schlamm-Feeling á la Wacken? Nicht in Mannheim. Und während der Himmel über dem Maimarkt-Gelände aufreißt, gefühlt erstmals Sonnenstrahlen den Boden zwischen "Palastzelt" und Open-Air-Bühnen erwärmen, schweifen die Gedanken noch einmal durch das Programm der letzten Tage.

Was im Programm von Festivalchef Timo Kumpf weiterhin begeistert: Die Kompromisslosigkeit, mit der er sich weigert, vermeintlich "schlechte Bands" auf seinem "Maifeld Derby" zu akzeptieren, erspart es dem Publikum, enttäuscht zu werden – stattdessen hagelt es auch im 13. Jahr immer wieder geniale Entdeckungen.

Foto: Schottmüller

Um ein Beispiel zu nennen, das hier bisher nicht gewürdigt wurde: Hania Rani, die am Samstagabend noch auf der Bühne stand. Dass der 33-jährigen Polin tatsächlich das gigantische Palastzelt geräumt wurde, für ihre Klaviermusik – man hielt es im Vorfeld für eine eher befremdliche Entscheidung. Doch dann tauchte sie in ihrer "Wagenburg" aus Piano, Flügel, E-Pianos ab.

Und die versprochene "pure Magie" tat ihre Wirkung. Rasende Finger, feine Loops, zarter Gesang, kongenial ergänzt von Ziemowit Klimek am Kontrabass: Das versammelte Palastzelt ließ sich in den Bann dieser Ausnahmekünstlerin ziehen. Umwerfend.

Griechischer Dream-Pop und eine rasende belgische Drummerin

Doch nun wirklich zum Sonntag. Der beginnt für den Autor mit Stella Chronopoulou alias Σtella – laut Derby-Programm die erste griechische Künstlerin, die es in das Line-up geschafft hat. Ein sonniger Auftritt, mal balladesk, mal mit Calypso-Anklängen. Ein fröhlich-verträumter Popauftritt, der erste Tanzmuskeln lockert.

Der Sonntag begann für den Autor mit Stella Chronopoulou alias Σtella. Foto: sös

Deutlich heftiger geht es dann auf der großen Zeltbühne weiter. Dunkel ist es. Blitzlichtgewitter. Vorne toben drei Gestalten mit so hartem Sound, dass es einen fast rückwärts wieder aus dem Zelt bläst. "Brutus" sind es, die hier auf der Bühne stehen.

Progressiver Metal aus dem belgischen Flandern. Eigentlich, so besagt es die Bandlegende, ist das Trio ein gescheitertes Quartett: Als Schlagzeugerin Stefanie Mannaerts, Gitarrist Stijn Vanhoegaerden und Bassist Peter Mulders zu Beginn ihrer gemeinsamen Karriere vergeblich nach dem passenden Sänger suchten, überredeten sie die Drummerin dazu, doch einfach selbst die Gesangsparts zu übernehmen. Ganz sicher keine falsche Entscheidung.

„Brutus“ aus dem belgischen Flandern machen Progressive Metal. Foto: sös

Erst "stupid shit", dann Selfies für "Mama Isolde"

Irgendetwas schiefgelaufen ist hingegen beim kurzen Zwischenstopp auf der "Arena2"-Openair-Bühne. Musik? Gibt’s hier gerade nicht, als der Autor in der Menschenmenge aufschlägt. Stattdessen eine Musikerin gelangweilt rauchend am Bühnenrand, eine andere palavernd mit dem Publikum. Erst "unplugged", dann mit dem Megaphon in der Hand.

Ansätze zur "Wall of Death". Crowdsurfing. Ohne Musik, nur ein bisschen ratloses Schlagwerk. Was ist denn da los, "Labrini Girls"? "Wildes Post-Punk-Rodeo", wie eigentlich versprochen, geht so aber nicht, oder? Die prägnanteste Erklärung liefern die Punks aus Brighton später selbst: Stromausfall – "so we just did stupid shit for 30 mins".

Auch ruhig, aber deutlich ernsthafter geht es derweil im "Parcours d’Amour" zu. Hannes Wittmer aka "Spaceman Spiff" steht (wieder einmal) in der Reitarena, bewaffnet nur mit Gitarre und grundsympathischer Ehrlichkeit.

Es geht um Haltung, um den Umgang mit sich, mit seinen Depressionen. Denn die hatten den 38-Jährigen fest im Griff, wie er verrät. Das Publikum liebt den Songwriter, seine sympathische Art, seine nachdenklichen Lieder.

Er selbst? Gerührt von so viel Zuneigung. Zum Abschluss gönnt er sich noch ein Selfie vor jubelndem Publikum: "Für Mama Isolde".

Hannes Wittmer aka „Spaceman Spiff“ mit Gitarre und grundsympathischer Ehrlichkeit. Foto: sös

Emanzipatorische Wut mit "Mannequin Pussy"

Während im Dunkel des Palastzelts Chelsea Wolfe mit operntauglicher Stimme ihre hart rockende Band führt (kein Wunder, dass die Amerikanerin "Brutus" unter ihre Fittiche nahm), rollte über die kleine "Arena2" eine gewaltige Energiewelle hinweg.

Denn erstens hat die Bühne offenbar endlich wieder Saft. Und zweitens stehen mit den Philadelphia-Punkrockern von "Mannequin Pussy" vier Musikerinnen auf der Bühne, die wissen, wie man die Sau rauslässt.

Chelsea Wolfe führt ihre hart rockende Band mit operntauglicher Stimme. Foto: sös

Frontfrau Marisa Dabice liefert ein atemberaubendes Schauspiel am Bühnenrand ab, variiert zwischen zuckrigem Flirt und brüllender Anklage, fleht, predigt, verflucht, ehe ihre Band explodieren darf.

Thematisch geht es um feministische Selbstermächtigung, um unterdrückerische Systeme, um rassistische Polizeigewalt in den USA. Nur der provokativ gedachte Akt, alle Männer im Publikum mal laut "Pussy" schreien zu lassen, wirkt dann doch etwas albern.

Marisa, so prüde ist Mannheim nicht! (Auch wenn der Autor ganz froh ist, dass die eigenen Töchter, die endlich mit aufs Derby durften, mangels Englisch-Kenntnissen nicht verstanden haben, worum es da eigentlich geht. Aber abgerockt haben sie dafür umso leidenschaftlicher!)

"Altin Gün" grooven in den goldenen Sonnenuntergang

Gewissermaßen zum "Abkühlen"  darf einen dann noch Grace Cummings gefangen nehmen. Die Australierin mit der großen Stimme bewegt sich in Mannheim irgendwo zwischen Folk und Country. Ein Auftritt zum Verloren gehen – wenn nicht noch ein Party-Highlight warten würde: "Altin Gün" nämlich.

Die Australierin mit der großen Stimme: Grace Cummings. Foto: sös

Die niederländische Band hat sich die Open-Air-Bühne komplett in Gold einkleiden lassen, entsprechend strahlend wird der Sonnenuntergang begrüßt. Der Folk-Rock mit den unverkennbaren türkischen Einschlägen – unter anderem mit der Saz, der türkischen Laute, in den Händen von Erdinç Ecevit Yıldız – treibt noch einmal die Laune noch oben und lässt die Tanzbeine rotieren.

"Danke für dieses Wochenende", heißt es am Montag auf den Derby-Seiten in Richtung der Besucher und des Teams. "Soviel positive Energie getankt, die noch lange anhalten wird." Ein Kompliment, das man doch gerne zurückgibt.

Update: Montag, 3. Juni 2024, 12.00 Uhr


Yara, Sophie May und Balming Tiger trotzen schlechtem Wetter - Tag 2

Von Daniel Schottmüller

Mannheim. Es ist ein Samstag für Hartgesottene. Denn leider bewahrheiten sich die miesepetrigen Wettervorhersagen: An diesem Nachmittag mag es in Mannheim nicht aufhören, zu schütten. Da machen sich zum Start von Tag zwei wirklich nur die Allertapfersten in Richtung Maimarktgelände auf. Gegen 14 Uhr sind die Tore des Palastzelts noch verschlossen.

Vor den anderen Bühnen dominieren Ponchos, Schirme, Gummi- und Wanderstiefel das regentrübe Bild. Aber über das Wetter wird dieser Tage schon genug geschrieben – und das Besondere an einem Festival ist ja, dass die Umstände einem herzlich schnurz werden: Wer bei dem Wort Woodstock an Pfützen und Erkältungsgefahr denkt, dem ist nicht mehr zu helfen. Und auch im Verlauf dieses Maifeld-Nachmittags wird sich zeigen, dass die Musik hilft – auf extrem unterschiedliche Art und Weise.

„Altin Gün“ grooven in den goldenen Sonnenuntergang. Foto: sös

Yara beschwören die Wirkmacht des Humors. Ein Rodeoritt auf einem Steckenpferd; ein Keyboarder, der zum Trommelwirbel der Schlagzeugerin in Sekundenschnelle einen Zauberwürfel löst und Dada-Texte wie "Ich bin Maler von Beruf, bin Lackierer von Beruf ja, ja, ja, ja": Diese Band aus Heidelberg und Mannheim ist eine Wucht! Allein die rauchig-flehentliche Stimme von Jakob Halamoda wird man, einmal gehört, so schnell nicht wieder los. Gottseidank! "Champagner aus dem Aschenbecher", skandieren alsbald auch die glücklich verstreuten Im-Regen-Tänzer vor der Bühne.

Lied und Text zeigen, was die Lokalmatadoren auszeichnet: Raue Schale trifft auf blubbrige Süße  – poppige Melodien auf roughe Indierock-Attitüde. Das sympathische Quartett erinnert an Faber, AnnenMayKantereit oder Wanda. Dass Yara jüngst dem Karlstorbahnhof als Gringo-Mayer-Support einheizten, macht aber mindestens ebenso viel Sinn. Letztes Jahr hat der kleine Kurpfälzer übrigens noch an gleicher Stelle gespielt, bevor es auf große Deutschlandtour ging – man traut den Mittzwanzigern einen ähnlich rasanten Aufstieg zu. 

Wo wir schon bei großen Träumen sind. Auch das kann natürlich eine Gegenwetter-Strategie sein. Die Schweizer Gruppe Soft Loft besteht aus zwei hinreißend singenden Damen an Gitarre und Keyboard, einem Bassisten, der sich spannende Melodien zutraut, sowie Gitarrist und Schlagzeuger, die zumindest optisch den Sechzigern enthüpft zu sein scheinen.

In der Summe entsteht ein perlend-harmonischer Klang, wie man ihn sich als Begleitung für nächtliche Autofahrten wünschen würde. Aber auch im Mannheimer Regengeprassel entfalten Soft Loft Wirkung. Alles wiegt sich verträumt von links nach rechts. "Schau mal, es sieht aus, als würde die Band direkt unter einer Regenwolke stehen", zeigt eine Fotografin stolz ein besonders atmosphärisches Bild vor. 

Inzwischen ist aber auch an den anderen Bühnen was los. Am Parcours D’Amours kann man sich von den trockenen E-Gitarren der Mannheimer Garagenband Lone Aires aufwärmen lassen. Es sei ihr bisher größter Auftritt, freut sich Frontmann und Namensgeber Miguel Aires – "crazy!" Die Zuschauer, die auf den zum Glück überdachten Sitzschalen der Reitstadion-Tribüne Platz genommen haben, spenden aufmunternden Applaus.

Überhaupt, ist das Maifeld einfach ein nettes Festival. Man lächelt sich an, lässt sich gegenseitig den Vortritt und wirft das bisschen Müll, das entsteht, in die vorgesehenen Behälter. Drei Tage Utopia im Rhein-Neckar-Delta. Wie bunt und schön das Leben sein kann, halten einige der Besucher schriftlich fest. An die Fensterwand der Tribüne haben sie bunte Schmetterlinge und Herzen geklebt. "Lach kaputt, was dich kaputtmacht", steht da zum Beispiel. "Ist es zu laut, bist du zu alt" oder "Nass, aber geil!"

Nieve Ella würde Letzteres sofort unterschreiben. "The weather is shit, but I kinda like it", lacht die 21-Jährige. "It feels like a proper gig!" Recht hat sie. In den westlichen Midlands, in der Nähe von Wolverhampton, aufgewachsen, trotzt die blond bemähnte Sängerin heute im weißen Sommer-Top den Verhältnissen. Wieso auch nicht? Nieve Ella ist immer in Bewegung. Zusammen mit ihren "best friends" rockt sie lasziv über die Bühne, dass einem ganz warm wird. Irgendwie klingt sie dabei, als wäre sie Olivia Rodrigos gefährliche britische Cousine. 

Überhaupt: Wer, wenn nicht die Briten, erweist sich an einem solchen Tag als Festival-tauglich? Bei Chalk aus der nordirischen Hauptstadt Belfast mutieren selbst die sonst so freundlichen Festivalgäste zu Rüpelrockern. Krass verzerrte Gitarren, unerbittliche Rhythmen und dazu die Spoken-Word-Vocals, die der irrlichternde Ross Cullen begleitet von wildem Geschrei abfeuert: Dieser Post-Punk sorgt für erstes Pogo und Bierduschen vor der Arena-Bühne. 

Das stoische Gegenbild dazu: John Francis Flynn – ein bärenhafter Hüne mit langen Haaren und Rübezahlbart – erscheint in "traditionellen irischen Sandalen" am Parcours D‘Amours. Seine Interpretation landestypischer Folkweisen erinnert mal an den "Misty Mountain"-Song aus dem ersten Hobbit-Film, dann wieder an die Dubliners oder mongolischen Kehlkopfgesang. Begleitet wird er von seinem gefühlt halb so großen Violinisten, der zwar ebenfalls Ire, aber in Bad Friedrichshall geboren ist – was sein experimentierfreudiger Kumpel nicht müde wird, zu betonen. 

Und damit wären wir auch bei der effektivsten Schlechtwetter-Waffe angekommen: dem Eskapismus. Als Spielplatz für die weltoffene Indie-Crowd macht das Maifeld Derby bewusst Platz für Künstler, die sich fernab des Mainstreams austoben. Das größte Eskalationspotenzial bringen Balming Tiger mit. Genüsslich macht sich das achtköpfige Soundkollektiv über die Konventionen des K-Pops her. Choreos, Tanz und Rap-Parts gibt es auch bei diesen Raubkatzen – aber wie.

Man meint in ihrer wahnwitzigen Performance Spuren von Martial Arts, dem Harlem Shake, The Prodigy und Run-D.M.C. zu erkennen. Aber was im Detail dahinter steckt, ist am Ende wahrscheinlich wurscht. Während die Frauen und Männer über die lila leuchtende Palastzeltbühne wirbeln, werden im Publikum so viele Smartphones hochgehalten wie bei keinem anderen Act. Man will die cineastische Energie festhalten – wenn nur nicht der Bass so markzerfetzend dröhnen würde…

Scheinbar entsteht während 45 Minuten Balming Tiger so viel Hitze, dass sogar die Regenwolken Reißaus nehmen. Zeit, diesen Nachmittag harmonisch ausklingen zu lassen. Sophie May nimmt sich diesem Wunsch mit Hingabe an. Die 24-Jährige ist ein Paradebeispiel für das Indie-Motto "perfekt unperfekt".

Sie verwechselt Mannheim mit Frankfurt, braucht Ewigkeiten zum Stimmen ihrer Gitarre, singt darüber, dass ihr der Kosmos zu groß ist und sie beim Sex immer das Gesicht der eigenen Mutter vor Augen hat, beendet ihr Set schließlich viel zu früh, um danach noch einmal für ein Lied zurückzukehren – und trotzdem liegt ihr das Maifeld Derby zu Füßen.

Es geht auch gar nicht anders! Zu charmant ist die Londonerin in ihren Ansagen, zu selbstironisch ihre einfühlsamen, an Phoebe Bridgers erinnernden Folkballaden, zu zart diese einzigartige Stimme. Kein Wunder, dass ein offensichtlich geplätteter männlicher Fan nach dem (zweiten) Ende des Konzerts um die verkrumpelte Setlist bittet. Kriegt er natürlich. Und während die härtesten der Hartgesottenen sich jetzt in den abendlichen Konzertreigen stürzen, taucht eine warme Sonne das Maimarktgelände in rotes Licht. Schön war’s.

Update: Sonntag, 2. Juni 2024, 12.56 Uhr


Verabschiedet sich das Maifeld Derby aus der Festival-Landschaft?

Von Sören S. Sgries 

Mannheim. Als hätten die Festivalmacher um Timo Kumpf es geahnt: "Herzlich willkommen beim verflixten 13. Maifeld Derby!", heißt es gleich zum Auftakt im Programmheft. Und tatsächlich: So richtig perfekt startet dieses Festivalwochenende auf dem Mannheimer Maimarkt-Gelände tatsächlich nicht. Das Wetter? Uff. Die düsteren Prognosen der Wetterfrösche hinterlassen auch Spuren auf den Social-Media-Kanälen des "Derbys": "Tickets zu verkaufen!", heißt es in den Kommentarspalten erschreckend oft. Sie wissen ja nicht, was ihnen entgeht auf diesem besten kleinen Festival, das Europa zu bieten hat!

Dry Cleaning. Foto: sös

Zugeben: Auch der Autor dieser Zeilen hat sich selten so wenig darüber geärgert, erst "zu spät", also nach Dienstschluss, in Richtung Festival starten zu dürfen, wie an diesem Freitagabend. Heuer aber bringt das Vorteile mit sich. Beim Ausstieg am S-Bahnhof Mannheim Arena/Maimarkt: viel Grau am Himmel, aber kaum noch Tropfen. Die Chuzpe, trotzig die Regenjacke daheim gelassen zu haben, wird zumindest nicht unmittelbar bestraft. Beim Radeln durch die Felder dann die gewohnte Maifeld-Vorfreude. Wind im Gesicht. Der Duft von feuchten Wiesen und blühenden Disteln in der Nase. Die wummernden Beats aus dem "Palastzelt" im Ohr. Auf geht’s!

Australien-Vibes bei Sydney-Wetter

Erster Stopp: Franky Stew und Harvey Gunn. Auch wenn es nur noch für die letzten Songs reicht: Das Rap-Duo aus Brighton bringt ordentlich Druck in die dampfende Menge. Seit Teenagerjahren machen die beiden gemeinsam Musik - und das merkt man. Einer am Plattenteller, einer am Mikrofon. Und das Publikum geht voll mit. Funfact: Das Artwork ihres  jüngsten Albums, "The South’s Got Something To Say", ist ziemlich pferdelastig gehalten. Perfektes Match also für das Mannheimer Reitgelände.

Weiter geht’s unter freiem Himmel. Der ist zwar bei weitem nicht so wattewölkchen-blau wie auf dem Stew/Gunn-Cover, aber das lässt sich schnell vergessen, wenn man "Royel Otis" auf der Bühne erleben darf. Als "sonnendurchfluteter Indie-Rock" werden die Australier um Gitarrist Royel  Madell und Sänger Otis Pavlovic angekündigt, live ergänzt um Schlagzeuger Julian Sudek. Das groovet herrlich retro dahin. Mindestens bei "You're so fucking gorgeous" (Sofaking) sind alle dabei.

Kurzer Gedanke: Kämen bei strahlendem Sonnenschein noch heftigere Surfer-Vibes auf? Und muss man mit den Australiern eigentlich Mitleid haben? Kühlen die Jungs from Down Under nicht aus, so wettertechnisch? Doch der Blick aufs Handy beruhigt: "15 Grad Celsius, stark bewölkt" – das sind nicht nur die Wetterdaten für Mannheim, sondern auch für Sydney. "Heimspiel-Feeling" also für "Royel Otis".

Das Rätsel um die "Derby Dollars"

Höchste Zeit für eine kleine Erkundungstour. Denn auch im "verflixten" 13. Jahr kommt das Maifeld Derby noch mit einigen Neuerungen daher – aber natürlich auch mit altbekannten Skurrilitäten. Dem "Derby Dollar"  etwa, dieser festivaleigenen Währung, ohne die an den Essens- und Getränkeständen nichts geht. Wechselkurs zum Euro: 1:1. Diejenigen, die erstmals den Weg nach Mannheim gefunden haben, erkennt man an ihrer verzweifelten Suche nach den Wechselstuben. Andere fachsimpeln: "Mir konnte immer noch keiner beantworten, warum es halbe Dollar gibt." "Na, weil es Kult ist".

Altbewährt auch der "Parcours d’Amour", die Bühne vor der Reitstadion-Tribüne, wo sich zurückgelehnt in die Plaste-Sitzschalen auch in diesem Jahr die schönsten Entdeckungen des Derbys  machen lassen. Beispielweise Holly Macve, die 29-jährige irische Songwriterin, die in püppchenhafter Anmutung hinter ihrem Keyboard steht. Die Stimme dann: groß. Die Balladen: tief und düster. Wer später auf ihrem Youtube-Channel stöbert, stößt auf kleine nostalgische Kunstwerke. Die Zusammenarbeit mit Lana Del Rey ("Suburban House"): folgerichtig.

Zum netten Edwin, oder den aufgedrehten Sextile?

Weiter geht zu Edwin Rosen, zurück im Palastzelt. Der 26-jährige Stuttgarter tritt solo, aber im Leuchtermeer auf die Bühne. Dazu flackern einige Röhrenfernseher. Die Erwartungen sind groß an die vernuschelten, hallenden, immer sentimentalen Songs. Und tatsächlich gibt Rosen, entspannt mit schwarzem Hoodie und rotem Bass auf der Bühne, gleich mal Gas. Fette Beats, Tanzstimmung, Jubel. Und dann? So ganz scheint die Energie nicht überzuspringen. Könnte es daran liegen, dass die deutschsprachigen Texte dann doch ein wenig die Tiefe vermissen lassen? Auch wenn sein "Vertigo" natürlich direkt ins Ohr geht.

Also: Ein kleiner Ausflug ins weitere Gelände, auf die neue Freiluft-Bühne "Arena2", erstmals im Einsatz. Hier herrscht erstaunlich viel Gedränge, trotz des wieder einsetzenden Regens. Auf der Bühne toben Melissa Scaduto und Brady Keehn herum, begleitet von Cameron Michael: "Sextile" sind energiegeladener Electro-Punk, eingeflogen aus Kalifornien – und kaum zu stoppen. Musik, um im Beat zu schwimmen, die Realität zu vergessen. Was Keehn offenbar zwischenzeitlich auch tut, als er der Menge eine Dusche aus der Wasserflasche gönnt. Kühne Vermutung: Bei etwas anderen Witterungsbedingungen wär die Dankbarkeit der Crowd da vielleicht etwas größer gewesen. Aber was soll’s – der nächste Song wartet. Schade nur, dass die Kalifornier bei den Übergängen etwas schwächeln. Zu viel Pause für die volle Ekstase.

Zurück zu Edwin Rosen ins Zelt, der sich gerade viel zu früh von der Bühne verabschiedet hat – um dann nach "Zugabe"-Rufen wieder ans Mikro zu eilen. "Es ist immer ein bisschen riskant", gesteht er dann nett grinsend. "Wenn ihr das nicht gerufen hättet, wäre mein Set zu kurz." Dann gibt es noch zwei Songs – unter anderem "Marmelade und Himbeereis", ein Uralt-Song der Schweizer von "Grauzone" aus den frühen 1980er. Ein versöhnlicher Abschluss mit dem grundsympathischen Edwin.

Britischer Indie-Rock in englischem Ambiente

Ein Zufall kann es ja nicht sein, dass eine britische Band einen Song hat, der "Wetsuit" heißt. Und dass diese Band dann auch noch diejenige ist, mit deren Auftritt am späten Freitagabend das schlechte Wetter wieder zurück ist. Oder? Also: "Put a wetsuit on, come on, come on" – und Bühne frei für "The Vaccines". Seit 2009 sind die Londoner Indie-Rocker gemeinsam unterwegs. Und die Routine beweist die Gruppe und Sänger Justin Young dann auch auf der Bühne.

Gemessen an dem, was Festival-Leiter Timo Kumpf ansonsten an experimentellen, neuen Entdeckungen für sein "Derby" bucht, sind die "Vaccines" fast schon erschreckend etabliert. Ihr populärster Song, "Post Break-Up Sex", erschien immerhin schon vor 13 Jahren. 2011. Aber: Das darf einem ja auch mal gefallen, oder? Das Publikum jedenfalls ist gut dabei, wenn Young zum Mitsingen, Mitklatschen auffordert. Der Platz vor der Open-Air-Bühne: Gerammelt voll, trotz Regens.

Finale mit der wandlungslustigen "Queen of Elektropop"

Das Finale dieses Abends (zumindest für den Autor) ist dann so gigantisch, so perfektionistisch wie man es von einer Ikone wie Róisín Murphy wohl erwarten muss. Die irische "Queen of Elektropop" jagt mit ihrer Band Song um Song ins brechend volle Palastzelt, begleitet von aufwändiger Videokunst auf den großen Bühnenbildschirmen, gerne auch mit Livecam. Dazu ständig wechselnde Kostüme, nahezu jeder Song im neuen Outfit: schwarzer (Kunst-)Pelz, Frack und Zylinder, "Leder-Stern", schwarz-weißer Zweiteiler, … Aber auch farbenfroher darf es mal zugehen, etwas beim 2023er-Hit "CooCool". Worüber wir noch rätseln: In ihrer Instragram-Story zeigt sich die 50-Jährige beim Stadtbummel durch Mannheim, vor einem Brautmoden-Geschäft. Ob da was ins Gepäck gewandert ist für künftige Bühnen-Looks?

Wie ist es um die Zukunft des "Derby" bestellt?

Das Fazit nach diesem ersten Festivaltag? Ach, wie gut, dass es dieses "Herzensprojekt" gibt. Und wie gut, dass es auch weitergehen wird – nicht nur am Samstag und Sonntag, sondern auch im Jahr 2025. Das nämlich kündigt das Derby-Team schon jetzt offensiv an, der Vorverkauf soll gleich am Montag starten. Allerdings schwimmt da auch schon mehr als eine Andeutung mit, dass das "verflixte 14. Maifeld Derby" dann tatsächlich das letzte gewesen sein könnte.

"In diesem Jahr versuchen wir die Weichen so zu stellen, dass es finanziell und vor allem persönlich auch danach weitergehen kann", schreibt Kumpf. Man brauche "mehr Schultern, um das Pferd zu stemmen". Und falls das nicht gelingt? "Dann werden wir uns mit einem rauschenden Fest verabschieden", verspricht er. Aber vielleicht feiern wir erst einmal das aktuelle Jahr? Feucht-fröhlich und regenberauscht?

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