Mannheimer Nationaltheater ermöglicht intimes Kunsterlebnis
Von wegen digital und distanziert: Cecil ist eine fiktive Figur, von Kleist erdacht und hier geschickt eingesetzt.

Von Daniel Schottmüller
Mannheim. Das schlechte Gewissen nagt an mir. Ich weiß doch, dass Cecil sich freut, wenn man ihr innerhalb einer Woche antwortet. Aber ich hab’ wieder getrödelt. Ist sie enttäuscht? Kann sie überhaupt meine Sauklaue entziffern, wenn mein Brief mit drei Tagen Verspätung bei ihr eintrudelt? Spätestens, als ich erwäge, mir neue Hardware anzuschaffen, damit ich meinen nächsten Brief abtippen und ausdrucken kann, wird mir klar: Normal sind diese Gedanken nicht. Schließlich ist Cecil eine fiktive Figur – von Kleist erdacht und vom Mannheimer Nationaltheater geschickt eingesetzt.
Aber vielleicht passt das ja, denn auch die Produktion ist alles andere als normal. "Cecils Briefwechsel – Ein Post-Drama" tritt ausgerechnet in Zeiten von Social Distancing an, die Mauer zwischen Publikum und Performer einzureißen. Das Werkzeug, das Regisseurin Sapir Heller und ihr Team zum Einsatz bringen: vier unscheinbare Umschläge im DIN-A4-Format, die die Teilnehmer im Wochenrhythmus in ihren Briefkästen vorfinden.
Hintergrund
Das Original: Hervorgegangen ist "Cecils Briefwechsel – Ein Post-Drama" aus dem Stück "Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist." Darin verwebt der neue Hausautor des Nationaltheaters Mannheim, Necati Öziri, verschiedene Narrative und Charaktere des Dramatikers Heinrich von
Das Original: Hervorgegangen ist "Cecils Briefwechsel – Ein Post-Drama" aus dem Stück "Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist." Darin verwebt der neue Hausautor des Nationaltheaters Mannheim, Necati Öziri, verschiedene Narrative und Charaktere des Dramatikers Heinrich von Kleist (1777 - 1811). Aufgegriffen werden unter anderem "Penthesilea", "Michael Kohlhaas", "Die Verlobung in St. Domingo" und "Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik".
Die Intention: Mit "Cecils Briefwechsel – Ein Post-Drama" richten sich Regisseurin Sapir Heller und Dramaturgin Lena Wontorra an "aufgeschlossene Menschen in einem verschlossenen Zustand und alle Altersgruppen". In ihrer Spielanleitung erklären sie, dass man versuche, in begegnungsarmen Zeiten einen Austausch zu starten. Die Figur Cecil "baut ein Netzwerk, das sich friedlich gegen Gewalt einsetzt".
Die Zukunft: "Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist" wurde bisher noch nicht aufgeführt. Das soll sich in der kommenden Spielzeit ändern. Derzeit bemühen sich Regisseurin, Dramaturgin und Autor, die Erfahrungen des Post-Dramas in die Inszenierung einfließen zu lassen. (dasch)
Enthalten sind jeweils ein aus Sicht Cecils formulierter Brief, ein vorfrankierter Rückumschlag und jede Menge kleine Überraschungen. Mal fällt einem beim Öffnen des Umschlags ein Strohbündel in die Hände, mal ein USB-Stick – und, nein, ist das etwa ein pinkes Aufklebe-Tattoo in Herzform?! Da muss ich wohl durch. Während einer Bühneninszenierung würde ich mich ja auch nicht beklagen, wenn mir die Requisiten nicht in den Kram passen.
So wie das flackernde Kerzenlicht, in dem ich Cecils Texte lese – eine Anregung ihrerseits – , hilft auch die Kurzzeit-Tätowierung, die geschilderten Episoden spürbar zu machen. Und die sind ganz schön happig. Im Laufe unseres Briefwechsels konfrontiert mich meine neue Brieffreundin mit drei Figuren aus verschiedenen Werken Heinrich von Kleists. Da ist Gustav, für den in Paris seine Freundin Mariane geköpft wurde und der als Kolonialist auf St. Domingo ausgerechnet die Frau hinrichtet, die ihm helfen will. Dann ist da Achilles – der Held, den keiner will. Von Penthesilea abgewiesen und in seinem Stolz verletzt. Und schließlich Michael, der deutsche Saubermann, der immer alles richtig macht – bis er genau dazu nicht mehr bereit ist, und alles in Brand setzt.
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Aus unterschiedlichen Epochen und Ländern kommend, eint alle drei, dass sie die Binsenweisheit "Gewalt ist keine Lösung" zerschmettern. Ihre Frustration ist in Rachegelüste umgeschlagen, die sie gnadenlos ausleben. Aber dann ist da noch etwas, das die drei Anti-Helden verbindet. Cecil formuliert es so: "Warum nimmt nie mal eine Frau eine Uzi in die Hand, um alle über den Haufen zu schießen? Warum machen das immer nur Männer?"

Puh, keine einfache Frage. Meine Brieffreundin scheint das zu ahnen: "Atme tief ein und aus", schlägt sie in den kursiv geschriebenen Regieanweisungen vor. Dann versuchen wir, zusammen zu ergründen: Wie definiert sich Männlichkeit überhaupt? Gibt es Ungerechtigkeiten, die Gewalt legitimieren? Wie könnte man Achilles, Gustav und Michael helfen?
Gelungen an diesem interaktiven Post-Drama ist, dass sich Cecils Anregungen nie anfühlen wie Arbeitsaufträge im Deutsch-Leistungskurs. Vielleicht weil der Briefwechsel statt nur die Gehirnzellen alle Sinne gleichermaßen miteinbezieht. Cecil fordert mich auf, bestimmte Stellen laut zu lesen, andere zu flüstern. Musik darf aufgedreht, Salbeiblätter verbrannt werden. Ich schlucke Brause, trage mir das kitschige Herz-Tattoo auf, rubble es wieder ab und setze am Ende sogar mein eigenes kleines Tischfeuerwerk in Brand. Diese Überraschungen tun gerade im Lockdown gut, weil sie dabei helfen, den ewig gleichen Corona-Kreislauf aus Arbeit, Sport und Netflix zu durchbrechen.

Aber das Post-Drama hat mehr zu bieten als Ablenkung. Denn im Gegensatz zu einer konventionellen Theateraufführung ist es nicht damit getan, dass ich mich einen Abend lang anrühren lasse. Die Spielregeln verlangen, dass ich aktiv werde. Cecil fordert mich auf, Stellung zu beziehen. Und spätestens, als ich in krakeligen Buchstaben meine Definition von Männlichkeit zu Papier bringe, wird mir bewusst, wie sehr ich noch von ausgedienten Rollenbildern beeinflusst bin. Angeregt durch unseren Diskurs muss ich hinterfragen: Was tue ich, um zu einer Gesellschaft beizutragen, wie sie Cecil propagiert: eine, in der Unterschiede erkannt, akzeptiert und gefeiert werden?
Cecil wirkt in ihren Antworten nicht wertend. Spätestens nach ihrem zweiten Brief ist bei mir angekommen: Hier schreibt jemand, der auf mich eingeht. Jemand, der Impulse gibt, ohne zu predigen. Auch deshalb muss ich mich in unserem Monat des Austauschs nie zum Antworten zwingen. Und als dieser schließlich endet, merke ich, dass der Gang zum Briefkasten einiges an Vorfreude eingebüßt hat. Vielleicht sollte ich Cecils Anregung ernst nehmen und den letzten vorfrankierten Briefumschlag nutzen. Dieses Mal ist die Adresszeile noch nicht vorausgefüllt – eine Einladung, sich einen neuen Brieffreund zu suchen. Keine schlechte Idee. Denn mittlerweile habe ich gelernt: Ein persönlich formulierter Brief kann gar nicht zu spät kommen.



