Schwetzinger SWR-Festspiele

Tragödien des Nichterkennens

Neues Musiktheater mit Monteverdi: "Tre Volti - 3 Blicke auf Liebe und Krieg" von Annette Schlünz - Jeremias Schwarzer und Ulrike Draesner eröffneten die Schwetzinger SWR-Festspiele im Rokokotheater

01.05.2017 UPDATE: 02.05.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 41 Sekunden

Geschlechterkampf um eine verlorene Socke: Petra Hoffmann (links), Dietrich Henschel (rechts neben ihr) sowie Yari Stilo (Mitte) und das Vokalquartett in Schwetzingen. Foto:Elmar Witt

Von Matthias Roth

Wenn zu Beginn der Streicherbogen langsam über die Kante des großen Beckens streift, klingt das einer Säge nicht unähnlich. Der Säge eines Chirurgen, die sich durch ein Brustbein fräst. Der Patient: Claudio Monteverdi. Die Chirurgen: Annette Schlünz (Komposition) und Jeremias Schwarzer (Konzept) sowie Ulrike Draesner (neuer Text).

"Tre Volti - 3 Blicke auf Liebe und Krieg" heißt das "Musiktheater mit Monteverdi", mit dem die Schwetzinger Festspiele 2017 eröffnet wurden. Man wagt Ungeheuerliches, öffnet einen alten Klangkörper und eignet ihn sich vollkommen an. Die Musik der Komponistin Schlünz, geboren 1964, bohrt sich (nach Schwarzers Plan) in Monteverdis berühmtes "Combattimento di Tancredi e Clorinda" von 1624 hinein, zerlegt das Stück, kommentiert und transformiert es, denkt seine Geschichte und seine Musik fort. Riskante Sache.

Zitate bekannter Werke in neuen Kompositionen sind ein alter Hut, die Anverwandlung früherer Stile oder "komponierte Interpretationen" sind - bei Wolfgang Rihm oder Hans Zender - gängige Praxis. Hier aber wird ein ganzes Stück neu gedacht.

Historie und Gegenwart beeinflussen und überlagern sich, ringen miteinander: Monteverdis Stück schildert einen erbarmungslosen Kampf: Tancredi fordert einen Ritter zum Duell auf Leben und Tod, ohne zu wissen, wer dieser Ritter ist.

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Die Story spielt (nach Torquato Tassos "Gerusalema Liberata") zur Zeit des Ersten Kreuzzugs, der 1099 bekanntlich in einem entsetzlichen Massaker endete, als die christlichen Befreier der Heiligen Stadt freudig durchs Blut der ungläubigen Muslime wateten. Tancredis Gegner entpuppt sich allerdings als seine Geliebte Clorinda, eine Sarazenin aus dem Lager des Feindes.

Die Autorin Ulrike Draesner setzt dieser Tragödie des Nichterkennens ein gegenwärtiges Bezeihungsdrama gegenüber: Nach 17 Jahren trennen sich Chlora, eine Drohnenpilotin, die im Auftrag der CIA mit dem Joystick Bomben in feindliche Lager lenkt, unwissend, wen sie da in die Luft sprengt, und Tankred, ein Handy-Vertreter mit Kunden im Nahen Osten, wo Handys bekanntlich gern als Bombenzünder benutzt werden. Beide sind in Kriege involviert und bekriegen sich privat: Der Countdown ihrer Beziehung entzündet sich an Banalitäten, etwa einer in der Waschmaschine verlorengegangenen Socke aus Jerusalem.

Die neue Programmdirektorin der SWR-Festspiele, Heike Hoffmann, wagt mit der Uraufführung dieses Stücks, das in seiner Konzeption genauso ungewöhnlich ist wie in seiner Realisation im Rokokotheater, einen Schritt in experimentelles Neuland.

Die Distanz zwischen Bühne und Orchester ist aufgehoben, die Musiker agieren auf der von Fred Pommerehn gebauten Bühne, einer dreistöckigen Stahlkonstruktion. Bernd Alois Zimmermanns "Kugelgestalt der Zeit", in der alles gleich abrufbar ist, scheint hier zum Raum geworden.

Der Clou: Den Musikern an Klarinette, Saxofon, Akkordeon, Schlagzeug und E-Gitarre sind mit Concerto Köln solche gegenübergestellt, die auf alten Instrumenten und historisch informiert musizieren. Dabei durchdringen sich die Szenen gegenseitig, überlappen sich oder folgen "pur" aufeinander.

Die Partitur zeichnet das hoch komplexe Miteinander von alter und neuer, eigener und fremder Musik exakt vor. Die Komponistin spricht von "Fenstern", die sich immer wieder öffnen und schließen und den Blick nach draußen oder innen lenken. Der Dirigent Arno Waschk steuert die vielen scheinbar ungleichen Elemente mit faszinierender Souveränität und gibt den 90 Minuten Aufführungsdauer eine bemerkenswerte musikalische Stringenz.

Die Regisseurin Ingrid von Wantoch Rekowski hat mit Petra Hoffmann (Chlora/Clorinda), Dietrich Henschel (Tankred/Tankredi/Testo) sowie einem weiblichen Vokalquartett, das der tragischen Heldin wie ein Schatten folgt, ein wundervoll agierendes Personal, das die Partien sängerisch mit enormer Kompetenz und Subtilität und szenisch mit vollem Einsatz verwirklicht. Die Tänzer Zaïda Ballesteros Parejo (Clorinda) und Yari Stilo (Tancredi) erweitern das szenische Spektrum häufig ins Pantomimische.

Die szenische Umsetzung jedoch zeigt Schwächen. So gelang es der Regisseurin nicht, das Kernmotiv des Nichterkennens als Urprinzip des Krieges herauszuarbeiten, wo die Anonymität als Garant für die Zerstörung fungiert: Nur wer sein Gegenüber nicht kennt, schlägt fanatisch auf es ein.

Das war bei den Kreuzfahrern nicht anders als beim heutigen Dschihad. Überhaupt kam der Kampf auf Leben und Tod, der bei Monteverdi noch ganz körperlich präsent ist, beim modernen Paar jedoch eher in schal gewordenen Worten und entkörperlichtem Sex abläuft, in dieser Inszenierung insgesamt zu kurz.

Es blieb der Eindruck einer typischen Midlife-Crisis der Protagonisten. Die Frage der Fremdheit aber - politisch und gesellschaftlich hoch brisant - wurde szenisch kaum thematisiert. Das bietet Chancen für Regisseure, die das unterirdische Gewaltpotenzial dieses Stücks erst noch entdecken müssen.

Info: Sendung SWR 2 am 7. Mai, 20 Uhr.

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