Heidelberger Stückemarkt: "Das multikulturelle Europa wird kommen"

RNZ-Gespräch mit Intendant Holger Schultze und dem Künstlerischen Leiter Jürgen Popig über den Heidelberger Stückemarkt 2016

21.04.2016 UPDATE: 23.04.2016 06:00 Uhr 2 Minuten, 47 Sekunden

Holger Schultze (rechts) und Jürgen Popig beim RNZ-Gespräch. Foto: Joe Hoffmann

hv. Vor dem Hintergrund der Brüsseler Terroranschläge steht die Brisanz des kommenden Festivals im Zentrum.

Herr Schultze, die Brüsseler Terroranschläge treffen auch den Stückemarkt 2016, der das Gastland Belgien hat. Wie wirkt sich das aus?

Schultze: Wir wollen noch Belgien-Kenner einladen. Aber die Anschläge sollen den Blick nicht verengen. Denn Belgien hat eine wunderbare, sehr reichhaltige Theater- und Kulturlandschaft.

Herr Popig, Belgien wurde schon vor einem Jahr als Hauptsitz der Europäischen Union ausgewählt.

Popig: Wir wollten uns nach Mexiko wieder auf Europa konzentrieren. Belgien war noch nicht am Stückemarkt beteiligt, und Brüssel ist die europäische Hauptstadt …

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Schultze: Einerseits ist Belgien ein Nachbarland, andererseits ist es theatral wenig bekannt, obwohl wichtige Impulse von dort kommen …

Popig: Das mag auch an der Mehrsprachigkeit liegen: Es gibt wallonische und flämische Theatermacher.

Belgien und vor allem Brüssel sehen sich als Modell für ein offenes multikulturelles Europa. Ist es in Gefahr?

Schultze: Ich bin Berliner und glaube, dass das multikulturelle Europa kommen wird. Die entscheidende Frage ist: Wie verhält sich eine Gesellschaft zu Angriffen auf öffentliche Orte? In Moskau waren bereits Theater vom Terror betroffen. Als Theatermann möchte ich sagen, dass es ungeheuer wichtig ist, die öffentlichen Orte zu behaupten. Die demokratische Gesellschaft darf sich nicht zurückdrängen lassen. Theater sind Orte des Diskurses, und die multikulturelle Gesellschaft existiert bereits.

Wie sich etwa in der Kooperation des Heidelberger Theaters mit ungarischen Partnern zeigt.

Schultze: Wir haben im Haus über dreißig Nationalitäten. Und die Stückemarkt-Dramen beziehen sich oft auf Europa. Das Theater ist ein Mikrokosmos, in dem die beste Integration stattfindet, denn die Menschen sind hier in Arbeitszusammenhänge eingebunden. Gemeinsam wird ein Kunstwerk für die Bühne erarbeitet - Abschottungen halte ich für ganz gefährlich.

Welche Inhalte haben nun die belgischen Gastspiele?

Popig: Wir haben vier Gastspiele eingeladen. Das erste ist von der UBIK Group aus Liège. Die junge Formation geht immer auf die umgebende Stadt ein, und die Gruppenmitglieder haben bereits in Heidelberg recherchiert. Dann kommt die Need Company aus Brüssel, eine europaweit renommierte Gruppe. Ihre Aufführung "Der blinde Dichter" thematisiert die Biographien der beteiligten Schauspieler, die eine Landkarte des multikulturellen Europa ergeben. In dem Stück "Gas. Plädoyer einer verurteilten Mutter" aus Tielt ist der Sohn ein Selbstmordattentäter. Und "Einundvierzig" der Brüsseler Gruppe Transquinquennal zeigt eine bunte Revue skurriler Szenen.

Am Internationalen Autorenwettbewerb nehmen vier belgische Stücke teil.

Popig: Unser Belgien-Scout Luk van den Dries hat sie ausgewählt. Dabei gibt es eine fiktive Konfrontation von Leni Riefenstahl mit Susan Sontag. Ebenfalls dabei ist ein intimes Kammerspiel über die Einsamkeit. Dann geht es politisch brisant um jemanden, der eine totale Verweigerungshaltung einnimmt. Hinzu kommt eine Erinnerung an Hiroshima.

Gesellschaftspolitische Trends gibt es in den deutschsprachigen Gastspielen.

Schultze: Das Stück der Stunde ist "Terror" von Ferdinand von Schirach, das vom Schauspiel Frankfurt aufgeführt wird. Es geht um einen Prozess, in dem das Publikum über einen Kampfpiloten abstimmt. Die Autoren beschäftigen sich massiv mit solchen Themen. Man merkt, wie sich die Welt verändert. Das Flüchtlingsthema kommt etwa in dem Gastspiel "Exodus" vor, zudem in unserem Beitrag, der Uraufführung "Stadt Land Flucht". In "Furcht und Ekel" von Dirk Laucke geht es um Rassismus.

Popig: "LSD" aus Basel gehört zu einem zweiten Schwerpunkt in den Spielplänen und ist eine Selbstbefragung des Theaters, ein Rückgriff auf seine ureigenen Mittel und eine Schule des Sehens.

Schultze: Es ist schon selbstverständ-lich, dass die ersten Bühnen zum Stückemarkt anreisen, was nun in geballter Form geschieht und die große Bedeutung des Festivals unterstreicht.

Wie lässt sich der Deutschsprachige Autorenwettbewerb charakterisieren?

Popig: Dort geht es einmal um die Flüchtlingsproblematik. Ein anderes Mal sind zwei junge Menschen mit Krankheit und Tod konfrontiert. Es kommt auch eine Art Apokalypse vor. Hinzu tritt ein heutiges Weltuntergangsszenario mit biblischen Motiven. Dann gibt es eine Liebesgeschichte zwischen einem Mädchen, das sich eigentlich umbringen möchte, und einem Jungen mit einer tödlichen Krankheit. Ein Stationendrama handelt von der Schwierigkeit, aus dem bisherigen Leben auszubrechen.

Was passiert im Jugendtheater?

Popig: Es gibt einen originären Theatertext, eine Stückentwicklung von Regisseur und Schauspielern sowie eine Romanbearbeitung. Moderne Kom-munikationsmittel und Gruppenzwang spielen eine Rolle.

Der Stückemarkt wird wieder mit einer Heidelberger Premiere eröffnet.

Schultze: "Der Mann aus Oklahoma" ist das Preisträgerstück 2015 und wird von Robin Telfer inszeniert. Es hat sehr komödiantische Elemente, und ich höre aus den Proben, dass die Schauspieler an diesem Theatertext einen Riesenspaß haben.

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