Mensch oder digitale Maschine?
Schauspielhaus Graz mit "Erinnya" von Clemens J. Setz beim Stückemarkt - Ein unterhaltsamer, aber auch angespannter Abend

Überangepasst wirkt das Hybridwesen Matthias (rechts: Alex Deutinger) in seinem blauen Anzug. Aber trotz aller Disziplin kann er seinen Platz im Leben nicht finden. Foto: Lupi Spuma
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Als Mischung aus zutraulichem Teddy und abgründigem Zombie kommt dieser Matthias daher. Er hat zwar einen Knopf im Ohr, was an die Steiff-Kuscheltiere erinnert, aber Matthias‘ Kopf hängt auch fatal an einem unsichtbaren Draht, wie das Drama "Erinnya" von Clemens J. Setz während der Aufführung des Schauspielhauses Graz beim Stückemarkt subtil vor Augen führte. In der Inszenierung von Claudia Bossard, die im Alten Saal des Heidelberger Theaters dargeboten wurde, wuselt der junge Mann zunächst aufgedreht-munter, dann aber immer mehr robotermäßig ferngesteuert durch die Szenerie. Was gelangt da hinter der Gute-Laune-Fassade durch sein Ohr ins Gehirn?
Tatsächlich hatte Matthias mit schweren Panikstörungen und Depressionen zu kämpfen. Erst das "Erinnya" brachte Besserung: Dieses digitale, vermeintlich demokratische Netzwerk generiert in Echtzeit Sätze, die der Patient über ein Headset empfängt und die es ihm ermöglichen, im Alltag sprachlich zu kommunizieren. Aber die entstehende Wörterdecke wirkt fragil, da werden schon mal auf die Schnelle die Begriffe "ziemlich" und "Ziegenmilch" verwechselt. Man merkt, wie Matthias auf dem schmalen Grat zwischen eigener und künstlicher Sprache balanciert, dabei verbal immer wieder leicht ins Rutschen kommt. Menschliche wie künstliche Intelligenz entwickeln sich wechselwirkend immer weiter und verschmelzen mit unabsehbaren Folgen.
Der Schauspieler und Tänzer Alex Deutinger verleiht dem humanen Hybridwesen Matthias ein ganz eigenes Bewegungsprofil: Zugleich großäugig-freundlich und tänzelnd-tastend bewegt er sich zwischen seinen Mitmenschen - und kann seinen Platz im Leben doch nicht wirklich finden. Seine von Susanne Konstanze Weber gespielte Geliebte will lange nur das Positive sehen: wie ihr Partner mit Erinnya schrittweise in die Normalität zurückkehrt. Aber das Ganze läuft allmählich aus dem Ruder, als sie Matthias ihren Eltern (Nico Link, Martina Zinner) vorstellen will. Denn nun kommen Fragen auf, die ans digitale wie menschliche Eingemachte gehen.
Dabei sind im kleinbürgerlichen Ambiente (Bühne: Frank Holldack, Komposition: Jan Christoph Godde) erst einmal alle entspannt und tragen zum Teil geblümte Kostüme (Elisabeth Weiß). Locker steppt man durch die Szene, wo Figuren der Medienwelt wie Marlon Brando auftauchen, vor allem aber auch Erinnyen aus der Antike. Tamara Semzov und Alida Bohnen begleiten als symbiotische Rachegöttinnen chorartig raunend - und Matthias’ Zwitternatur spiegelnd - die Entstehung der doppelbödigen schönen neuen Welt, in der Mensch und digitale Maschine zunehmend nicht mehr Hand in Hand in einem System arbeiten, sondern bluetooth-mäßig kabellos verschaltet sind.
Auch interessant
Insgesamt ein unterhaltsam-angespannter Abend, an dem früh von "lauter Wahnsinnigen auf der Welt" die Rede ist, aber erst im weiteren Verlauf immer groteskere Höhen erreicht werden - und das auch in menschlichen Niederungen, wenn etwa der Toilettendeckel zum Gesprächspartner avanciert. Dabei reift die Erkenntnis, dass auch die Menschen nur "Knotenpunkte innerhalb des Systems" sind - ein bedeutsamer Satz: Denn lösen wir Heutige unsere persönliche Autonomie durch das Vordringen der Digitalisierung in alle Lebensbereiche nicht immer weiter auf? Und: An welchem Punkt wird man vom Subjekt zum Objekt der Internet-Welt? - Starker Applaus.



