Heidelberger Flux-Festival

Die Poesie des Urbanen

Wenn "Opfer" zu Tänzern werden: Mit "One of us" endete das Flux-Festival im Heidelberger Zwinger.

31.01.2022 UPDATE: 01.02.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 53 Sekunden
In der Choreografie „One of us“ von Jonas Frey liefern sich vier Männer einen getanzten Schlagabtausch. Foto: Susanne Reichardt

Von Marion Gottlob

Heidelberg. Fast wäre der Abschluss-Abend beim Flux-Festival ausgefallen, weil ein Tänzer an Corona erkrankt war. Doch dann konnte der Heidelberger Choreograf Jonas Frey kurzfristig den Tanzpädagogik-Studenten Ivan Nikonoroff aus Amsterdam als Ersatz gewinnen. Eine Woche lang, fünf Stunden täglich, probte das Ensemble für die Produktion "One of us" – bis Nikonoroff wirklich "One of us – einer von uns" wurde. Damit konnte die Präsentation im Heidelberger Zwinger doch noch ein Erfolg des Teams wie auch jedes einzelnen Mitglieds werden. So soll es beim Hip-Hop sein.

Häufig dauert die aktive Karriere für Tänzerinnen und Tänzer nur wenige Jahre. Rund um den 30. Geburtstag werden sie aufgrund der hohen körperlichen Anforderungen aussortiert – was wenig diskutiert wird. Frey mit seinem Ensemble macht es anders. In seiner Ü-30-Gruppe (mit dem jüngeren Studenten Nikonoroff) ist jeder Tänzer zwar akrobatisch auf Zack. Doch statt einer reinen Aneinanderreihung von akrobatischen Kunststücken war hier eine Story mit Grips zu sehen. Während im klassischen Ballett Frauen die Bühne beherrschen, sind im Frey-Stück nur Männer zu sehen. Es hat damit zu tun, dass früher fast nur Männer diese moderne Form nutzten, auch wenn es inzwischen viele renommierte Tänzerinnen gibt.

In "One of us" geht um eine Suche nach den Wurzeln des urbanen Tanzes. Während die Zuschauer in den Zwinger strömen, verharren vier Männer unbeweglich im kleinen Kreis. Musik wie rieselndes Wasser bringt das Quartett in Bewegung. Damit sind zwei Grundmotive eingeführt: der Kreis und das Wasser mit seiner Wellen-Bewegung. Die Männer nehmen Notiz voneinander, doch es bleibt ungewiss, ob sie sich einander annähern oder drohen.

Einer löst sich aus der Gruppe und startet den Tanz. Wieder und wieder verschränkt er die Arme vor dem Gesicht. Später wird sich das Motiv auflösen, es bleibt eine von vielen Bewegungen. Irgendwann ahmen andere den Vortänzer nach. Kontakt wird möglich. Hierin liegt eine der größten Chancen des urbanen Tanzes.

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Es beginnt ein Wettkampf, und die Moves werden schwieriger: Nikonoroff bringt überraschende, aktuelle Elemente in die Gruppe, andere nehmen die Herausforderung an. Das steigert sich bis zum Tanz im Handstand, auf einem Arm oder auf dem Kopf. Immer rasanter werden die Drehungen.

Auch die Konkurrenz nimmt zu. Als einer nicht mithalten kann, wird er ausgeschlossen. Als ein anderer sein Können zeigt, wenden sich die Übrigen ab und verweigern den Respekt. Aus Neid und Eifersucht wird Feindschaft. Die Tänzer gehen aufeinander los: Es folgt "Schlag" auf "Schlag". Die Gegner fallen zu Boden und wollen sich verzweifelt schützen. Im Fallen nutzen die "Opfer" die berühmten Tanz-Moves. Sie winden sich am Boden, um "Tritten" auszuweichen – sie verschränken die Arme vor dem Gesicht, um den Kopf zu schützen.

So entsteht ein transparentes Konzept für den urbanen Tanz. Die Bewegungen können von der Gewalt in Familien, Schulen, Beruf und auf der Straße erzählen. Man sieht Täter, die nachtreten, wenn das Opfer schon am Boden kriecht und mit Verrenkungen zu fliehen versucht. Das Ganze ist jedoch so unterhaltsam gestaltet, dass die Show nicht in eine Betroffenheits-Attitüde verfällt. Ein grandioser Entwurf!

Irgendwann entsteht in Zeitlupe so etwas wie eine Rettungskette. Es ist, als könnten die Tänzer und ihr Choreograf nicht anders – jedes Gefühl und jede Situation wandelt sich automatisch in Tanz. Das Quartett zeigt, was der Titel versprochen hat: Jeder wird zum Teil der Gruppe mit dem Motto "one of us" – genau das, was sich so viele von uns wünschen.

Der Heidelberger Frey entdeckte die Hip-Hop-Szene im Haus der Jugend. Er studierte in den Niederlanden mit dem Bachelor of Dance in Education und absolviert jetzt ein Teilzeit-Masterstudium "Choreographie", ebenfalls in den Niederlanden. Seine Gruppe ist multikulturell: Albi Gjikaj kommt aus Albanien, er gewann mit 16 Jahren zum ersten Mal beim Powermove in Holland. Später war er Nord- und Westdeutscher Meister. David Kwieks Familie stammt aus Polen, sein Urgroßvater galt als bekannter Roma-König. Der Urenkel engagiert sich nun für Tanz-Projekte mit Kindern und demnächst mit Asylbewerbern. Zum Erfolg der Show hat auch Asli Kaymaz, kurz Azlay, beigetragen: Zum Event hat sie Eigenkompositionen live gemischt.

Als Ersatz für die zweite Choreografie wurde ein Making-of-Film von Aleksey Nutz gezeigt. Der Videograf stammt ursprünglich aus Kirgisien. Sein Film "Interior" wurde 2020 auf dem Cadence Video Poetry Film Festival in den USA und später auf Festivals in Griechenland, Mexiko und auf Teneriffa gezeigt. Passend zur Choreografie gelang eine poetische Darstellung des urbanen Tanzes, der in der Hässlichkeit von städtischen "Schmutzecken" entsteht und sich in pure Ästhetik verwandelt. Von dieser Spannung lebt der Tanz. Große Anerkennung für die Crew!

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