Leben wir einer "chaotischen Phase des Übergangs"?
Fabian Scheidler schlägt einen Ausweg aus unsere krisengeschüttelten Zeit vor: Die Aufwertung der Innenwelten.

Von Heribert Vogt
Heidelberg. "Wir haben eine Krise des gesamten Weltsystems. Und wir steuern in eine chaotische Phase des Übergangs, deren Ausgang ungewiss ist." Das sagte der Publizist Fabian Scheidler am Ende der Vorstellung seines Buches "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen". Bei seinem Auftritt im DAI Heidelberg erläuterte der Autor, der 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus erhielt, seine Zeitdiagnose. Demnach gilt auch für den Wandel unserer Zivilisation: Der Zerfall von komplexen Systemen und die Bildung des Neuen bestehen immer aus einer Kaskade von Teilzusammenbrüchen – wie die Finanzkrise, die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine.
Dabei steht die Gesellschaft jedes Mal an einer Weggabelung. "Wir müssen die Chancen nutzen und uns mit Bündnissen auf neue Krisen vorbereiten", glaubt Scheidler. Aber: "Die gute Nachricht ist: Je chaotischer ein System wird, desto mehr können gesellschaftliche Bewegungen ausrichten. Das nennt man in der Chaosforschung den Schmetterlingseffekt. Je mehr wir zu Schmetterlingen werden und gemeinsam am Wandel arbeiten, desto deutlicher können wir in den Krisen die Chance erhöhen, dass die Gesellschaft in eine zukunftsfähige Richtung kippt – und nicht in den Abgrund."
Scheidler durchschritt mit gewaltigen Reflexionsbögen – damit auch recht holzschnittartig – große Teile der Menschheitsgeschichte. So ging er etwa 66 Millionen Jahre zurück zu dem Asteroideneinschlag, der die Dinosaurier auslöschte. Insgesamt gab es in der früheren Geschichte der Erde fünf große Artensterben. Mit der Industriellen Revolution setzte ein sechstes ein, das heute durch die Klimakrise noch verschärft wird. Und diese schreitet immer schneller voran. "Wahrscheinlich befinden wir uns nah an entscheidenden Kipppunkten", so Scheidler. Etwa am Amazonas, in der Antarktis, in Grönland oder beim sibirischen Permafrost. Bei einer Erwärmung "um vier bis fünf Grad kann die Erde in ein Hot House kippen" und in weiten Teilen unbewohnbar werden.
Die Politik hat schon viel zu lange nicht gegengesteuert. Stattdessen setzt sie weiterhin auf die permanente Expansion der Wirtschaft. Die Wurzeln dafür liegen in der Entstehung des Kapitalismus und des mechanistischen Weltbildes seit der Frühen Neuzeit. Wie in einer Legowelt wird mit den Elementen der Natur nach Belieben umgesprungen. Die zentrale Metapher für diese Weltsicht war die Maschine. Das Leben erschien insgesamt als Uhrwerk. In dieser technokratischen Ideologie wurden die Menschen schließlich als biologische Roboter verstanden.
Seit der Renaissance bildete sich allmählich auch der moderne Staat heraus. Die Naturwissenschaften waren anwendungsorientiert: Ingenieure bauten Schiffe, Waffen und Festungen. Schließlich wurden die Menschen selbst zu Objekten, in der Sklaverei oder bei der Lohnarbeit. Dieser Prozess der Verdinglichung setzt sich fort: Im Westen nehmen Entfremdung und Einsamkeit zu.
Die soziale Atomisierung führt zu einer "Sehnsucht nach dem Ganzen", wie sich etwa in der Romantik zeigt. Die Suche nach Orientierung kann jedoch auch von nationalistischen oder faschistischen Kräften instrumentalisiert werden. Mit der Zeit ist die technokratische Ideologie immer radikaler geworden: Im Silicon Valley werden Menschen inzwischen als Datensatz begriffen. Dabei wurde das Weltbild der Berechenbarkeit längst überholt. So sind in der Astronomie die Phänomene der Dunklen Materie und der Dunklen Energie vollkommen ungelöst. Und in der Biologie bleibt das Leben unkalkulierbar, etwa im Hinblick auf die Innenwelten des Menschen.
Laut Scheidler wird die Welt durch die Naturwissenschaften keineswegs entzaubert, sondern immer rätselhafter: "Heute leben wir in einer Mitwelt aus komplexen lebenden Systemen." Deshalb müssten wir die Herrschaft über die Natur aufgeben und zu Formen der Kooperation übergehen. Das Ziel bestehe in der Aufwertung der Innenwelten, die man in der Kultur antrifft: "Da gibt es unbegrenztes Potenzial für Wachstum."
Scheidler fordert den Vorrang der Biosphäre. Anstelle wirtschaftlichen Wachstums sollen Verteilungsgerechtigkeit und Umweltverträglichkeit treten. Die jüngst zugesagten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sieht der Autor im ökologischen Umbau besser angelegt.
Info: Fabian Scheidler: "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen". Piper Verlag, 304 Seiten, 20 Euro.
