Heidelberg

Sammlung Prinzhorn zeigt lichtempfindliche Sonderausstellung

"Ein mehrfacher Millionenwerth" bietet empfindliche Schätzchen - Viele Objekte vertragen nur wenig Licht und sind vom Zerfall bedroht

16.06.2020 UPDATE: 17.06.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 13 Sekunden
Agnes Emma Richter, selbst genähtes und mit autobiographischen Texten besticktes Jäckchen, 1895. Foto: Sammlung Prinzhorn

Von Ingeborg Salomon

Heidelberg. Erst vor wenigen Tagen musste Ingrid von Beyme wieder einmal Nein sagen. Die Kuratorin der Heidelberger Sammlung Prinzhorn hatte eine Anfrage aus Oslo bekommen, ob man das Jäckchen von Agnes Emma Richter ausleihen könne. Das selbst genähte und bestickte Kleidungsstück ist eine der Ikonen der Sammlung – kostbar, Licht empfindlich und fragil wie die meisten anderen Exponate auch. "Wir können diese Schätzchen nicht verleihen, aber wir freuen uns sehr, dass wir sie jetzt Kunstinteressierten zeigen können", erklärte Ingrid von Beyme. Wegen der Corona-Pandemie öffnet die Prinzhorn-Sammlung erst jetzt wieder ihre Türen. Deshalb ist die Sonderausstellung zugleich der Auftakt für die erste Dauerausstellung in den neuen Räumen des Museums; diese wird ab 1. Juli zu sehen sein.

Hintergrund

> Das Museum Sammlung Prinzhorn ist seit September 2001 öffentlich zugänglich, nachdem das ehemalige Hörsaalgebäude der Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg für Museumszwecke umgestaltet wurde. Der Kunsthistoriker und Assistenzarzt der Heidelberger

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> Das Museum Sammlung Prinzhorn ist seit September 2001 öffentlich zugänglich, nachdem das ehemalige Hörsaalgebäude der Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg für Museumszwecke umgestaltet wurde. Der Kunsthistoriker und Assistenzarzt der Heidelberger Psychiatrischen Klinik Hans Prinzhorn (1886-1933) legte zwischen 1919 und 1921 eine Sammlung bildkünstlerischer und schriftlicher Werke von Anstaltsinsassen an. Heute würde man von sogenannter ‚Outsider Art‘ und Aufzeichnungen Psychiatrie-Erfahrener sprechen. Die historische Sammlung umfasst etwa 6000 Werke: Zeichnungen, Aquarelle, Briefe, Texte, Notationen, Bücher, Hefte, Collagen – zum Teil auf schwer zu erhaltenden Gebrauchspapieren – sowie rund 150 Ölgemälde, 30 textile Arbeiten und 70 Holzskulpturen. Sie entstanden zwischen 1825 und 1930 und stammen von rund 435 Anstaltsinsassen aus dem deutschen Sprachraum, wenige kamen aus Italien, Frankreich, Polen und Japan nach Heidelberg. Auch aktuell wächst die Sammlung beständig: Die Neuerwerbungen seit 1945 umfassen bis heute 30.000 Objekte.

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Genaues Betrachten lohnt sich bei allen Objekten, denn viele Patientenkünstler waren überaus kreativ und ausdauernd. Oft war Kunst eine Möglichkeit, die langen Tage als Psychiatrie-Patient zu strukturieren."Die Diagnose Schizophrenie bedeutete damals in der Regel lebenslänglich, denn wirksame Medikamente gab es noch nicht", so Ingrid von Beyme. Auch Agnes Richter lebte 25 Jahre, von 1893 bis zu ihrem Tod 1918, in der Anstalt Hubertusburg. Die kleinwüchsige und bucklige Näherin hatte Wahnvorstellungen und fürchtete dauernd, man wolle sie bestehlen. Die Nachbarn riefen wegen Ruhestörung und Hausfriedensbruch die Poli-

zei, die Beamten nahmen

die verwirrte Frau mit. Erst bei der Vorbereitung der Ausstellung "Irre ist weiblich" 2004 wurde ihre Krankenakte entdeckt. Anhand der Wäschenummer 583, die in das Jäckchen gestickt ist, konnte Agnes Richter als Schöpferin dieses berührenden Kunstwerks identifiziert werden.

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Ebenfalls gezeigt werden die visionären Wunderbilder, die Carl Lage in seiner Schuheinlegesohle entdeckte und die er in einer Zeichnung mit "Ein mehrfacher Millionenwerth" betitelte. So kam die Ausstellung zu ihren Namen. Der Titel spiegelt sich auch in der Auswahl anderer Werke. Verblüffende Geschichten erzählen beispielsweise Else Blankenhorns Geldscheine über fantastisch hohe Summen. Die Patientenkünstlerin nannte sie "Centuplonen", "Billionlen" und "Seidublonen Mark";

häufig zeigen sie auch ein Selbstporträt von Else Blankenhorn. Begleitet von engelhaften Wesen schweben Liebespaare, die an Chagall erinnern, durch den Raum; die Künstlerin wollte mit den Geldscheinen "die Erlösung aller beerdigten, aber nicht gestorbenen Ehepaare finanzieren", heißt es im Begleitheft. Das muss der Betrachter nicht verstehen, eindrucksvoll sind die Geldscheine trotzdem. Dass Else Blankenhorn eine privilegierte Patientin war – sie stammte aus einem großbürgerlichen Elternhaus und sollte sich wegen "nervöser Krisen" in der Schweizer Privatanstalt Bellevue in Kreuzlingen erholen – wird an den Materialien sichtbar, mit denen sie gearbeitet hat: dunkelblaue Tinte auf feinem Briefpapier.

Andere Künstler konnten da nicht so wählerisch sein. Viele verwendeten das, was sie in der Anstalt eben hatten: Pappe, Zeitungs-, Pack- und Toilettenpapier, Kopier- und Korrekturstifte der Ärzte. Da die Werke erst in den 1980er Jahren fachgerecht archiviert und konserviert wurden, sind viele Objekte der Sammlung heute sehr lichtempfindlich und vom Zerfall bedroht.

Ebenfalls eine Ikone der Prinzhorn-Sammlung ist die transparente Zeichnung eines Hexenkopfes von August Natterer. Der "schizophrene Meister", so Hans Prinzhorn, hatte sich von Ansichtskarten, die man gegen das Licht halten konnte, inspirieren lassen. So treten bei Beleuchtung unsichtbare Motive aus dem Hintergrund hervor. Die muss sich der Besucher aber derzeit vorstellen, denn der Diorama-Knopf, der das ermöglicht, darf in Corona-Zeiten als mögliche Infektionsquelle nicht benutzt werden.

Info: Für die Sammlung Prinzhorn, Voßstraße 2, gelten Corona bedingt eingeschränkte Öffnungszeiten: Mittwoch 15 bis 20 Uhr, Donnerstag und Freitag 13 bis 17 Uhr, Samstag 12 bis 17 Uhr. Derzeit dürfen acht Besucher (mit Mundschutz) gleichzeitig in die Räume. Um Wartezeiten zu vermeiden, wird um Voranmeldung gebeten unter E-Mail: shopprinz horn.zpm@med.uni-heidelberg.de oder telefonisch unter 06221/56.4739.

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