Plus "Hackney Diamonds"

Rolling Stones baden mit neuem Album in Jungbrunnen

Und den betreibt der talentierte Produzent Andrew Watt. Erstes Album seit 18 Jahren mit eigenen Songs.

22.10.2023 UPDATE: 22.10.2023 06:00 Uhr 3 Minuten, 8 Sekunden
Gitarre, Gesang – alles echt: Keith Richards (links) und Mick Jagger bei der Release-Party am Donnerstagabend in New York. Foto: dpa

Von Klaus Welzel

Heidelberg. Die Rolling Stones haben nach 18 (!) Jahren erstmals wieder ein Album mit eigenen, neuen Songs herausgebracht. Anlass für ein paar Fragen: Warum nicht mehr "Living In A Ghost Town"? Warum nicht mehr Coolness? Warum nicht ein Album wie "Bridges To Babylon", auf dem die Stones zeigen, dass sie mehr können als Blues und Rock’n’Roll?

Nun, weil es die Stones sind.

Drei alte, hart gesottene Herren um die 80, die deutlich mehr drauf haben als die meisten nicht einmal halb so alten Stars der Gegenwart. "Hackney Diamonds" heißt ihr Alterswerk, ein Slangbegriff für Räubereien in London – der Heimatstadt der Stones.

Vor 55 Jahren hieß so ein Song noch "Street Fighting Man" und wurde zum Welthit. Das dürfte mit den aktuellen Titeln etwas schwerer werden. Trotz des Erbes vom ewigen Rebellentum und trotz der teilweise herausragenden Qualität. Denn das, was vorliegt, ist eine Sammlung überwiegend guter Songs; aber kein in sich geschlossenes Album.

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Eigentlich sind die Herren Mick Jagger (80), Keith Richards (79) und Ron Wood (76) auch gar keine Rebellen. Sondern die am besten funktionierende Rock’n’Roll-Maschinerie der Welt. Fast jede Bühnenshow wirkt mittlerweile perfekt. Die letzte Tour, leider ohne den zu früh verstorbenen Drummer Charlie Watts, strahlte eine unglaubliche Dynamik aus. Was nicht zuletzt am Spiel von Nachfolgeschlagzeuger Steve Jordan (66) lag, der auch auf "Hackney Diamonds" routiniert zum Zuge kommt. Watts selbst soll Jordan vorgeschlagen haben, als der Krebs ihm die Endlichkeit seines Seins aufzeigte. Eine gute Wahl. Das punkige "Bite My Head Off" etwa kann man sich nur mit dem druckvollen Spiel von Jordan vorstellen. Watts, der vom Jazz kam, hätte sich auf so stupides Schlagwerk wohl eher nicht eingelassen.

Und der Rock’n’Roll-Zirkus geht ewig weiter. Das ist die Suggestion, die die Stones vermitteln. Früher hatten sie die besten Drogen und das wildeste Leben – daran erinnert der Staccato-Knaller "Live By The Sword". Heute leben sie supergesund, machen täglich Sport (zumindest der superfitte Frontmann Mick Jagger) und bringen auf jede Party eine noch jüngere Freundin mit. Kein Wunder. Jagger, der energiegeladene Faun, hat ja auch immer noch eine unglaublich kräftige Stimme, die aktuell selbst schwächere Songs wie "Miss It Up" trägt (einer von zwei mit Drummer Watts und dem Ex-Bassisten Bill Wyman).

Doch den absoluten Höhepunkt setzt Jagger gemeinsam mit Lady Gaga, die angeblich "zufällig" im Studio vorbeigeschaut hatte. In vier Minuten und 38 Sekunden packt das Duo das gesamte Spektrum von "Gimme Shelter" und "You Can’t Always Get What You Want" in ein Lied. Stevie Wonder haut dazu in die Tasten. Aber auch ohne die Stargäste wird die Ballade namens "Sweet Sound Of Heaven" auf jeden Fall auf die Setlist der nächsten Stones-Tour kommen.

Höchste Zeit, ein Wort über den Produzenten Andrew Watt zu verlieren, der von Jagger auf Anraten von Ex-Beatle Paul McCartney engagiert wurde, nachdem die Herren-Combo monatelang nicht vom Fleck kam. In drei Wochen nahmen sie dann jeden Tag zwei bis drei neue Songs auf, von denen es zehn (plus die beiden alten Watts-Songs) auf das Album schafften. Wer weiß, dass Produzent Watt (33) Größen wie Iggy Pop, Ozzy Osbourne, aber auch Miley Cyrus, unter seinen Fittichen hatte, bekommt eine Ahnung, welch Jungbrunnen seine Studioarbeit für die Stones darstellte. Fast unnötig, zu erwähnen, dass Watt als Co-Songwriter firmiert und neben Gesang auch etwas Gitarre, Bass und Keyboards beisteuerte. Seine Handschrift prägt "Hackney Diamonds".

Ob Mick Jagger deshalb in "Whole Wide World" frotzelt: "Wenn Du denkst, die Party ist vorbei, vergiss es, sie hat gerade erst angefangen?" Und eine Party war es dann doch irgendwie, wenn Paul McCartney (ebenfalls als zufälliger Studio-Streuner) ein paar Bassläufe beisteuert und Elton John sich am Piano zum Boogie Woogie hinreißen lässt.

Da in L.A. ja viele weitere Songs entstanden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis noch mehr Stargäste geoutet werden. Und um die Eingangsfrage richtig einzuordnen: Aus der "Living In A Ghost Town"-Phase (2020) befindet sich sogar ein Song auf "Hackney Diamonds": "Dreamy Skies" – eine Weltenflucht aus den Zeiten von Corona. Sehr schön, aber nicht wirklich so cool wie eben "Ghost Town".

Am besten gelingen Anfang und Ende des Albums. Während die anderen Songs gelegentlich etwas unabgestimmt aufeinanderfolgen, reitet der Starter "Angry" eine knallige Attacke auf die Trommelfelle. Astreiner Rock. Könnte man sich auch als Opener künftiger Konzerte vorstellen. Und zum Schluss spielen die "old boys" das Muddy Waters-Cover "Rolling Stone Blues".

Der Legende nach soll sich der Song "Rolling Stone" auf einer der Platten befunden haben, die Mick Jagger unterm Arm trug, als er Keith Richards am 17. Oktober 1961 auf dem Bahnhof Dartford in Kent traf. Es entstand eine lebenslange Verbindung, mal getragen von Sympathie, dann von viel Konkurrenz. Und einen Bandnamen hatten sie auch gleich. Oder so ähnlich.

Auf jeden Fall war das der Beginn einer 60-jährigen Erfolgsgeschichte, von der man nicht alles glauben muss, aber vieles mögen kann. Wie singt Jagger so ironisch auf "Sweet Sounds Of Heaven": "Lasst die Alten weiter glauben, dass sie jung sind." Gerne. Wenn es bis zum nächsten Album mit eigenen neuen Songs nicht wieder 18 Jahre dauert ...

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