Die "Späte Familie" folgt den Regeln der Corona-Ästhetik
Deutschsprachige Erstaufführung des Romans von Zeruya Shalev - Saisonauftakt im Schauspielhaus
Von Volker Oesterreich
"Das Wort ,Familienbande’ hat einen Beigeschmack von Wahrheit", ätzte der österreichische Publizist Karl Kraus in seinem Band "Sprüche und Widersprüche". Was für ein Zitat! Mit ihm lässt sich ein Großteil der Weltliteratur von der Antike bis heute zu einer Sentenz verdichten. Auch in dem 2005 in deutscher Übersetzung erschienen Roman "Späte Familie" dreht sich alles um die Brüchigkeit und Notwendigkeit von Paarbeziehungen, um familiäre Konflikte, um Krisenherde zwischen den Geschlechtern und Generationen, aber auch um all die Missverständnisse, die damit zusammenhängen.
Die 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geborene Autorin Zeruya Shalev erzählt in ihrem Buch von Ella, die genau in solche Abgründe blickt. Sie löst sich aus einer problematischen Ehe, um sich nach allerlei familiären Irrungen und Wirrungen in die Arme eines anderen zu flüchten. Kennt man doch, ist man versucht zu urteilen. Oder mit Heinrich Heine ausgedrückt: "Es ist eine alte Geschichte / Doch bleibt sie immer neu."
Was also ist neu an der Deutschsprachigen Erstaufführung der "Späten Familie" nach Zeruya Shalevs Bestseller? Die knappe Antwort lautet: ziemlich viel! Sandra Strunz, die Hausregisseurin des Nationaltheaters Mannheim, begegnet dem Stoff mit vielerlei Verfremdungseffekten und folgt dabei den Regeln der Corona-Ästhetik. Sie lassen sich zu der Formel "Viel Abstand, wenig Interaktion" verdichten. Für Theaterleute ist das eine gewaltige Herausforderung, denn das pralle Bühnenleben verlangt ja genau nach dem Gegenteil, sprich: nach dem direkten Miteinander in jeder nur denkbaren Konstellation.
Sandra Strunz dagegen verpflichtet sich zu einer ziemlich sterilen Versuchsanordnung - und vermittelt trotzdem sehr viel von den seelischen Erschütterungen ihrer Figuren. Dies gelingt ihr durch vielfache Brechungen, indem die eigentliche Handlung sowohl filmisch als auch pantomimisch-tänzerisch kommentiert und reflektiert wird. Über dem nüchternen, nur karg möblierten Raum des Bühnenbildners Philip Bußmann schwebt eine niedrige Decke, die immer wieder in die Vertikale gezogen wird, so dass sie sich zur Leinwand verwandeln lässt. Darauf werden Szenen mit Ellas Vater, mit ihrem übergriffigen Ex oder mit ihrem verstörten Kind projiziert, alles in ästhetischem Grauweiß gehalten.
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Das, was die Schauspieler des Films zu sagen haben, sprechen die Akteure auf der Bühne synchron, allerdings nicht ganz perfekt, da sie ins Publikum schauen und nicht auf die projizierten Lippenbewegungen. Hinzu kommt, dass beispielsweise der gefilmte Großvater von einem Kind gesprochen wird und obendrein auch noch Geschlechterrollen getauscht werden oder phasenweise chorisch deklamiert wird. Jeder steckt also in Ellas fein gesponnenem und zunehmend rissig werdenden Nervenkostüm. Die ganze Inszenierung lebt von diesen Irritationsmomenten. Besonders überzeugend wirken dabei die Tanzszenen, und es verwundert, dass auf dem Besetzungszettel die Position "Choreografie" nicht aufgeführt wird, woraus man schließen darf, dass die als Regisseurin und Kostümbildnerin genannte Sandra Strunz auch für diese ausdrucksstarken Momente verantwortlich zeichnet.
Von Beruf ist Ella Archäologin. Das passt, denn sie gräbt frei nach Sigmund Freud nach den Untiefen ihres Seelenlebens. Am überzeugendsten gelingt dies Vassilissa Reznikoff, aber auch die übrigen Ensemblemitglieder lassen sich auf die neue Corona-Ästhetik ein. Das Publikum tut dies ebenfalls. Nur jeweils 100 Besucher dürfen ins ca. 650 Zuschauer fassende Schauspielhaus des Nationaltheaters Mannheim kommen. Willkommen in der neuen Realität, willkommen in der neuen Spielzeit. Das Theater lebt, und das ist die Hauptsache.