Von Marion Gottlob
Heidelberg. Manche Bilder sind wie schöne Menschen – man möchte sofort die Bekanntschaft mit ihnen machen. Andere wiederum sind erst auf den zweiten und dritten Blick von Interesse – und zwar aufgrund der Geschichten drumherum. Der Heidelberger Kunsthistoriker Marius Mrotzek gehört zu den Fachleuten, die in besonderer Weise einen Sinn für solche "Bilder"-Geschichten haben. Er recherchiert die Storys rund um ein Gemälde – und damit verändert sich manchmal auch der Wert des Werks. Eine gute Recherche spielt manchmal sogar eine wichtige Rolle vor Gericht, wenn um ein Bild gestritten wird, manchmal Jahre lang.
"Hmm!" Wer mit Marius Mrotzek spricht, wird diesen nachdenklichen Laut öfter hören. Was folgt dann? Natürlich eine interessante Story zu einem Markt, der sich tiefgreifend verändert hat. Denn durch das Internet war und ist der Kunstmarkt einem grundsätzlichen Wandel unterworfen: Früher waren die Preise für Kauf und Verkauf eines Bildes nur wenigen bekannt. Heute herrscht Transparenz: Wer sich auskennt, kann die Preise für Bilder im Internet recherchieren. Und nicht nur das.
Auf seine Art ist der Kunstmarkt heute global. Bilder werden über das Internet weltweit gehandelt. Marius Mrotzek lächelt: "Dennoch ist eine reale Auktion immer noch ein Abenteuer." Wer so etwas einmal erleben möchte, dem sei der Besuch in Paris bei "Drouot" empfohlen, wo in Nicht-Corona-Zeiten an manchen Tagen zeitgleich drei bis fünf Auktionen abgehalten werden. "Man kann sich die Bilder im Original anschauen und Details entdecken, die weder im Katalog aufgeführt noch auf einem Foto zu sehen sind. Das macht es so spannend und überraschend."
Marius Mrotzek ist auf der Kortelshütte bei Rothenberg im Odenwald aufgewachsen. Er hat in Heidelberg das Hölderlin-Gymnasium besucht und sich zunächst für Geschichte interessiert. Mit den Eltern besuchte er regelmäßig Ausstellungen. Doch nach dem Abitur war erst einmal unklar, was er studieren sollte. Sein Vater, Inhaber einer Werbeagentur, gab ihm den Ratschlag: "Mensch Junge, wenn du Kunstgeschichte studierst, dann mach’ doch noch was Gescheites dazu." Beim Einschreiben an der Universität stellte sich heraus, dass es das Fach Kunstgeschichte gab, aber nicht das Fach Betriebswirtschaft. "Spontan habe ich mich für das entschieden, was ich schon immer studieren wollte – nämlich Italienisch."
Es war eine gute Wahl, denn bald ergänzten sich die beiden Fächer. Der Student Marius entdeckte den Zauber der italienischen Malerei der Spätgotik und der Renaissance für sich. Bereits im zweiten Semester reiste er nach Venedig und war seither fast jedes Jahr mindestens einmal in der Lagunenstadt. "Ich habe den Ehrgeiz, die mehr als 180 Kirchen in Venedig zu besuchen. Da ist noch Luft nach oben."
Der Student war als Erasmus-Stipendiat zwei Semester im italienischen Udine und später ein Semester an der Sorbonne in Paris. Als Hilfswissenschaftler an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften arbeitete er am Projekt "Deutsche Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit" mit. Es war seine Aufgabe, vorhandene Angaben zu überprüfen: War diese Inschrift tatsächlich noch vorhanden oder nicht? Waren die Angaben korrekt?
Was ein wenig langweilig klingt, wird manchmal zur spannenden Detektiv-Story. Ein Beispiel: So sollte er die Angaben zu Inschriften im Kloster Blaubeuren prüfen. Zufällig kam der Hausmeister dazu: "Ich zeige Ihnen etwas, das Ihnen hier keiner zeigt." Er schloss einen kleinen Raum auf. Dort entdeckte der Student ein wertvolles Chorgestühl aus dem 15. Jahrhundert, das völlig unbekannt war. "Es ist toll, wenn man so etwas findet."
Nach dem Magister-Abschluss folgte die Promotion über einen Maler aus der Toskana mit Namen Alvaro Pirez de Évora. Die Bilder dieses Künstlers aus dem 15. Jahrhundert kosten heute um die 100.000 US-Dollar - und mehr. Auch dazu hat der Kunsthistoriker eine Geschichte parat: Ein Kenner erwarb ein Bild des Künstlers für den "Schnäppchen-Preis" von 60.000 Dollar, denn die Bildtafel hatte hat einen Riss, der quer durch die Darstellung einer Maria mit Kind ging. Nach der aufwendigen Restaurierung konnte das Bild für ein Vielfaches verkauft werden.
Nach dem Studium arbeitete Marius Mrotzek für einen Kunsthändler, der mehr als 200 Bilder pro Jahr an- und verkauft. Es war die Aufgabe des promovierten Experten, die französischen Auktionskataloge zu sichten und Empfehlungen auszusprechen. Seine Kenntnisse, seine Erfahrung, seine Neugier und sein Blick für Bilder kamen ihm für seine gutachterliche Tätigkeit zugute.
Um das zu erklären, holt er für unser Gespräch ein kleines Porträt der Maria-Anna Sophia von Sachsen aus dem 18. Jahrhundert hervor. Für den Laien ist es ein beliebiges Frauenbild. Doch nicht für den Fachmann, der die Story des Bildes recherchiert hat: Gemalt von dem schwedischen Maler mit dem französischen Namen Georges Desmarées, war es Teil eines großformatigen, rechteckigen Bildes. Vermutlich wurde dieses Bild beschädigt, denn nur das Gesicht als Oval ist heute noch erhalten. Bei vielen Bildern ist der Dargestellte falsch bezeichnet oder gar nicht mehr bekannt.
Marius Mrotzek holt ein weiteres Porträt hervor, das er für 100 Euro als Bild eines Unbekannten erstanden hat. Allerdings gibt es Hinweise, wer der Dargestellte sein könnte: Er trägt eine Schärpe und einen identifizierbaren Orden. Nun weiß der Kenner: Das ist ein besonderes Bild. Ein Maler hat König Friedrich I. von Württemberg (1754 bis 1816) porträtiert. Damit erfährt das Bild sofort eine Wertsteigerung.
Doch viel wichtiger ist, dass man der Person auf dem Bild wieder einen Namen zurückgegeben hat und somit der Anonymität entreißen konnte. "Das ist wie ein Sechser im Lotto, denn oft verläuft die Suche auch ohne Erfolg."
Er fügt hinzu: "Jeder von uns, der sich mit Bildern intensiv beschäftigt, träumt davon, ein unbekanntes Meisterwerk zu entdecken – auch ich. Wir alle, die diese Träume haben, sind wie Trüffelschweine auf der Suche nach Schätzen." Er lächelt und dann fügt er ein langes "Hmmm!" hinzu.