Ein sowjetisches Flugblatt, das als Passierschein dienen konnte. Foto: Verlag Das kulturelle Gedächtnis
Von Welf Grombacher
Heidelberg. Worte haben nicht die Sprengkraft von Bomben. Ihre Kraft zu unterschätzen aber wäre fatal. Propaganda-Abteilungen wussten das und produzierten deswegen während des Krieges sogenannte "Feind-Flugblätter", die den Gegner demotivieren und zersetzen oder gleich ganz zum Aufgeben überreden sollten. Die Blätter wurden mit Artilleriegranaten verschossen oder vom Flugzeug aus abgeworfen und erreichten den Feind so oft auf demselben Weg wie die Bomben.
Schon in den Napoleonischen Kriegen existierten derartige Flugschriften. Im Zweiten Weltkrieg aber erlebten sie eine Hochkonjunktur. Die Berliner Staatsbibliothek, die schon zehn Tage nach dem Überfall auf Polen 1939 von den Nazis eine Order erhielt, derartige Flugblätter zu archivieren, besitzt heute 24.000 Stück davon. Amerikanische, britische, französische und sowjetische ebenso wie deutsche. Die meisten davon jedoch wurden angekauft, nachdem der Sammler Klaus Kirchner, ein Holz- und Rahmenhändler aus Erlangen, der schon als 13-Jähriger nach Bombennächten heimlich Flugblätter gesammelt hatte, 1968 den Anstoß dazu gegeben hatte. 50 Jahre dauerte die Zusammenarbeit des 2018 verstorbenen Sammlers mit den Bibliothekarinnen der Staatsbibliothek. Ein aufwendig gestaltetes Buch der Herausgeber Moritz Rauchhaus und Tobias Roth versammelt jetzt diese "Feind-Flugblätter des Zweiten Weltkriegs" und kommentiert sie vorbildlich. Heidelberg, wo solche Flugblätter immer wieder thematisiert werden (vgl. RNZ vom 2. September 2020), ist darin allerdings nicht erwähnt.
Der Besitz solcher Propaganda-Schriften war strengstens verboten. Erwischten die Nazis trotzdem jemanden damit, wurde dieses "reichsfeindliche Verhalten" durch "Sonderbehandlung" geahndet. "In leichteren Fällen wird Einweisung in ein Konzentrationslager in Frage kommen", empfiehlt ein entsprechender Erlass des Reichsführers der SS Heinrich Himmler aus dem Februar 1942, in schwereren Fällen drohte gleich der Strang. England allein produzierte 6,5 Milliarden solcher Flugblätter in 29 Sprachen, und das trotz Ressourcenknappheit. Die Sowjetunion produzierte im Juni 1941 rund 60 verschiedene Flugblätter, im Dezember 1941 waren es schon 300, die in meist sechsstelligen Auflagen erschienen. Deutschland experimentierte mit mobilen Druckereien in Lkw hinter der Front. Ab 1941 setzten sich Druckerzüge durch.
Oft dienten die Flugblätter als Passierscheine, auf denen Soldaten für den Fall, dass sie sich ergeben und freiwillig in Kriegsgefangenschaft gehen, warme Mahlzeiten und eine Behandlung gemäß der Genfer Konvention zugesagt wurden. "Ei ssörrender" steht auf dem Blatt, das die Alliierten 1945 abwarfen, um den Deutschen mit einem Sprachkurs das Sich-Ergeben ("I surrender") zu erleichtern. Auf einem anderen Blatt der USA aus dem Jahr 1944 ist wie auf der Menü-Karte eines Restaurants das Essen aufgeführt, das deutsche Soldaten in Gefangenschaft erwartet – Bohnenkaffee und Schweinebraten inklusive. Wenn das kein Grund war, aufzugeben! Die deutsche Verpflegung an der Front fiel zu diesem Zeitpunkt deutlich spärlicher aus.
"Ein Flugblatt kam herabgeweht,/ Was wohl darin geschrieben steht?" - Schriftsteller wie Erich Weinert, Klaus Mann und Stefan Heym verfassten in Propagandaeinheiten die Texte für die Flugblätter. Teilweise sogar in Versform wie Johannes R. Becher, der in einem Gedicht verpackte, wie der Passierschein zu benutzen sei. Um bei den Soldaten Heimatsehnsucht zu wecken, waren oft Kinder und Familienszenen, knallende Sektkorken oder Revue-Girls abgebildet. Ein von der deutschen Propagandaeinheit "Südstern" für die Amerikaner konzipiertes Blatt, das 1945 im besetzten Italien abgeworfen wurde, zeigt wie auf einem Filmplakat eine blonde Schönheit, unter der der Slogan prangt "Gentlemen Prefer Blondes". Auf der Rückseite ist ein an Krücken gehender Soldat mit Beinstumpf zu sehen und die Worte "But Blondes Don’t Like Cripples".
Andere Blätter zeigen nackte Pin-up-Girls zum Sammeln, um zu gewährleisten, dass die Propagandaschriften nicht gleich entsorgt, sondern von Kamerad zu Kamerad weitergegeben wurden und auf diese Weise mehr Adressaten erreichten.
Eine andere Taktik verfolgt das einem Streichholzbriefchen nachempfundene, ebenfalls von der Einheit Südstern konzipierte Pamphlet, das die alliierten Soldaten feinstens genau zur Simulation einer Krankheit oder zur Selbstverstümmelung anleiten sollte, um der Front zu entfliehen und ins Lazarett zu kommen. Vom Vortäuschen einer leichten Augenentzündung durch Rizinussamen, über das Durchtrennen bestimmter Nerven im Kniegelenk bis hin zur Herzerkrankung durch 30 Zigaretten am Tag und Digitalistabletten spannte sich der Bogen: Letztlich keine unkluge Überlegung, band ein verletzter Soldat doch weit mehr Feind-Ressourcen als ein toter.
Info: Moritz Rauchhaus/Tobias Roth (Hg.): Feind-Flugblätter des Zweiten Weltkriegs, Verlag Das kulturelle Gedächtnis, 288 Seiten, 28 Euro.