Heidelberger Stückemarkt

Wüster Ski-Sex-Gewalt-Wirbel bei "Schnee Weiß"

MeToo: Schauspiel Köln mit Elfriede Jelineks "Schnee Weiß" beim Heidelberger Stückemarkt

01.05.2019 UPDATE: 02.05.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 23 Sekunden

Ein Jesus am Ski-Kreuz mit Frauenbrüsten gehört zu den krassen Bildern in Elfriede Jelineks MeToo-Drama "Schnee Weiß", mit dem das Schauspiel Köln beim Stückemarkt gastierte (v.l.: Peter Knaack, Lola Klamroth, Nikolay Sidorenko, Sabine Waibel). Foto: Tommy Hetzel

Von Heribert Vogt

Abgründe tun sich auf in den verschneiten österreichischen Alpen: Gletscherspalten des Wintersports wie auch Spalten der Frauen, welche die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihrem Stück "Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)" in immer neuen wortakrobatischen Slalomläufen umkreist. Nun zeigte das Schauspiel Köln im Marguerre-Saal Stefan Bachmanns Uraufführungsinszenierung dieses Dramas zur MeToo-Debatte.

Es geht um die ehemalige Skiläuferin und österreichische Abfahrtsmeisterin Nicola Werdenigg, die als Sechzehnjährige vergewaltigt wurde und im Jahr 2017 Machtmissbrauch sowie sexuelle Übergriffe während der 70-er und 80-er Jahre in österreichischen Ski-Internaten, Trainingslagern und bei Wettkämpfen öffentlich machte, was das Selbstbewusstsein der Skifahrernation erschütterte.

Wenn da auch in der Gletscherspalte noch "alles klar" sein sollte, rund um die menschliche ist dies keineswegs der Fall. Auch wenn das im großen Skizirkus zunächst von Stimmungsbomben wie DJ Ötzis Hit "Ein Stern (… der deinen Namen trägt)" überdröhnt wird. Am Ende des Wintertages geht es eben oft auch zu heißen Rhythmen mit Missbrauch und Übergriffen "atemlos durch die Nacht" (Musik: Gajek). Über solche Klüfte wedeln zu Beginn der Aufführung Skifahrer locker hinweg: Auf der Bühne sieht man eine weiße Bergkuppe, von der die aufgedrehten Wintersportler tatsächlich im Parallelschwung abfahren (Bühne und Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes). Nur mühsam dringen in dem lautstarken Trubel die Stimmen der geschädigten Frauen durch.

Aber rasch wechselt das Geschehen von den Alpen in die großen Textgebirge der Elfriede Jelinek. Über mehr als zwei Stunden wird fast durchgehend gesprochen, lange Monologe führen in tiefe dunkle Täler, von den strahlenden, lichten Höhen des Postkarten-Wintersports ist da nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil: Man wandert durch albtraumartig monströse Landschaften, die bevölkert sind von überdimensionierten weiblichen Geschlechtsteilen, einem an Skiern gekreuzigten Jesus mit Frauenbrüsten und einem vom Rumpf getrennten Männerkopf als Bild der Totalkastration. Dabei bekommt auch die katholische Kirche, die sich nicht nur mit Ruhm bekleckert hat, gehörig ihr Fett ab.

Ausgehend von den konkreten Missbrauchsfällen taucht Jelinek assoziativ und mäandernd tief ein in die Kulturgeschichte, um der "Erfindung der alten Leier" - dem historisch männerdominierten Geschlechterverhältnis unter der "schneeweißen" Oberfläche - auf die Spur zu kommen. Bezüge finden sich etwa zu Oskar Panizzas Drama "Das Liebeskonzil", Nietzsches Ausführungen zur Moralphilosophie, Freuds Thesen über Fetischismus oder Marie Bonapartes Darlegungen über die Symbolik der Kopftrophäen.

Allerdings verschmelzen diese Verbindungen in der großen Jelinek-Suada. Und es kommt eine Spezialität der Autorin hinzu: Durch überraschende Wortspiele entstehen oft plötzliche Wendungen, welche die Zusammenhänge zusätzlich aufbrechen, so ganz neue Perspektiven eröffnen - und den Zuschauer bei der Stange halten: Denn er ist permanent damit beschäftigt, bei diesem rasanten theatralen Riesenslalom den Überblick zu behalten.

"Das ganze Unglück kommt vom Sport", heißt es einmal provokativ. Aber das kann nicht ganz stimmen, wie die tiefen Wurzeln sexueller Gewalt belegen. Und: "Männer kommen überall auf der Welt vor." Allerdings lebt deren tradierte Siegermentalität im Sport weithin fort nach der Devise: "Nur die Härtesten kommen durch" - und aufs Treppchen. Das wird dann schon auch im Geschlechterkampf klappen. Denn: "Nichts wird so heiß gegessen wie geküsst."

Virtuos und mit viel Einsatz (Choreografie sowie Körperarbeit: Sabina Perry) bringen die Darsteller Margot Gödrös, Simon Kirsch, Lola Klamroth, Peter Knaack, Nikolay Sidorenko und Sabine Waibel den wüsten Ski-Sex-Gewalt-Wirbel über die Rampe. Am Ende versammeln sie sich mit Affenmasken auf dem Berg, gewissermaßen zu einem abgefahrenen Tanz auf dem Vulkan. Wie in Stanley Kubricks Science-Fiction-Film "2001. Odyssee im Weltraum" steht die Affenhorde vielleicht vor einem Entwicklungssprung. Aber wohin?

Das bleibt ungeklärt: Am Ende töten offenbar zwei Frauen auf dem Flughafen von Kuala Lumpur einen Mann - vielleicht der Auftakt zum nächsten Jelinek-Drama? Beim Stückemarkt jedenfalls geht das Gender-Thema noch weiter.

Starker Applaus.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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