Gibt der Opfergruppe der Sinti und Roma eine literarische Stimme: die Schriftstellerin Ursula Krechel mit ihrem Roman "Geisterbahn". Foto: Alfred Gerold
Von Heribert Vogt
Heidelberg. "Klatsch! Ihre schöne Hoffnung war auf den Boden gefallen." Zwei Sinti, Inhaber eines Karussellgeschäfts, sind im Jahr 1936 von den neuen Autoscootern begeistert - diese sind ihr Zukunftstraum. Aber auf der Messe in Berlin erhalten sie eine "schallende Ohrfeige", denn dort verkauft man "nicht an Zigeuner". Die Schriftstellerin Ursula Krechel (Jahrgang 1947) las zum Auftakt des 5. Heidelberger Literaturherbstes im DAI aus ihrem jüngsten Roman "Geisterbahn", der vom Schicksal der deutschen Sinti-Familie Dorn über mehrere Generationen erzählt.
Und obwohl die Zahl von 600.000 während der Nazi-Zeit ermordeten Sinti und Roma im Raum stand, gelang Krechel eine "schöne" Lesung, ein literarischer Balanceakt, der bei allem Schrecken die Menschlichkeit der Betroffenen nicht verdeckt, sondern oft auch leicht und heiter erscheinen lässt.
Ursula Krechel hat mit dem vorliegenden Buch ihre Trilogie über Opfer und Täter während der deutschen Nazi- und Nachkriegszeit abgeschlossen. Anfangs ging es in den Großromanen um das Schicksal verfolgter Juden im chinesischen Exil ("Shanghai fern von wo"). Danach folgte ein Werk über einen unerwünschten jüdischen Rückkehrer und dessen zerbrochene Familie ("Landgericht"), das im Jahr 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Und im gegenwärtigen Flüchtlingszeitalter besonders aktuell ist der Roman "Geisterbahn" mit den geschilderten Erfahrungen von Diskriminierung, Vertreibung und Gewalt.
Mit ihrer Trilogie sei sie vom Weiten ins ganz Nahe gegangen: von China über Deutschland in ihre Heimatstadt Trier, wo sie dem alltäglichen Faschismus nachgespürt habe. Im Gespräch mit Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg berichtete Krechel davon, wie sie als Kind eine "abgrundtief traurige" Sinti-Frau sah, die ihr Kind vorsichtshalber von der Schule abholte: "So begann ich einfach, in die Augen dieser Frau hineinzuschreiben".
Und Krechel, die stets mit aufwendigen Recherchen arbeitet, hat dafür auch im Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma nachgeforscht. Denn diese Opfergruppe steht "immer im Schatten". Die Autorin greift stark auf Dokumente zurück, die ihr eine Vorstellung von dem jeweiligen Menschen geben. Sie schreibt aber nicht über sie, sondern erfindet Romanfiguren, in die Realität einfließt. Durch Vermeidung persönlicher Emotionen sollen die Menschen möglichst schattenlos konturiert sein, damit sie viel eigene Autonomie ausstrahlen.
Darin liegt auch eine Abrechnung mit der klischeehaften "Zigeunerromantik", wie sie etwa bei dem mit Heidelberg verbundenen Schriftsteller Nikolaus Lenau anzutreffen ist, so Frank Reuter. Er würdigte Krechels behutsame Annäherung an das Thema. Denn sie habe das Schicksal der Sinti-Familie eingewoben in ein "großes Epochenpanorama": Die dargestellten Menschen führen kein Oasendasein, sondern sind auf der Höhe der Zeit. Ihr starkes Interesse an Autoscootern kündet von ihrer Modernität. Reuter bezeichnete Krechels Roman als "das erste Werk von literarischem Rang, das dieser Opfergruppe eine Stimme gibt".
Aber die Protagonisten des Romans haben es mit ihren Träumen sehr schwer. Wenige Tage nachdem sie 1936 mit ihrem Autoscooter-Wunsch abgeblitzt sind, stür-zen sie im wuseligen Berlin in ein schlimmes Szenario. Denn seit Kurzem gibt es einen "Runderlass betreffend die Bekämpfung der Zigeunerplage". Und im Vorfeld der Olympischen Spiele läuft am 16. Juli 1936 eine große Deportation an, der auch die beiden Sinti Alfons und Laurenz Dorn zum Opfer fallen. Sie werden unter den unwürdigsten Umständen in das Zwangslager Marzahn transportiert.
Fünf Kinder der Familie sterben dann im Lager, der Junge Ignatz wird dort noch geboren. Mit den schwer gezeichneten überlebenden Eltern und Schwester Anna kommt er nach Trier. Dort sitzen die beiden Kinder später mit den anderen Schülern in einer Klasse - scheinbar angekommen in der "Normalität", leben die Geister der Vergangenheit doch weiter.
Und das hält auch später, fast bis in unsere Gegenwart, weiter an. Die Geschwister Anna und Ignatz haben inzwischen in einem aufgegebenen Trierer Bahnhof ein Restaurant eröffnet. Mit warmem Erzählton schildert Ursula Krechel auch diese Zeit. Mal brummt der Laden, mal wird es schwierig. Aber eines Tages wird eingebrochen, und "scharlachrote SS-Runen" sind an die Wand geschmiert. Der Aufklärungsdrang der freundlichen Polizisten hält sich in Grenzen, und so ein Bahnhof ist eben auch nicht leicht zu versichern …
Insgesamt ein beklemmend-faszinierender Abend und ein gelungener Start in den Heidelberger Literaturherbst, der noch bis zum morgigen Sonntag über die weitverzweigten Bühnen der Stadt geht.
Info: Ursula Krechel: "Geisterbahn". Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2018. 650 S., geb., 32 Euro