Für Bernhard Schlink enthält die deutsche Leitkultur Vorgaben, damit sich Migranten hierzulande integrieren können. Ein entscheidender Ort dafür ist die Schule. Foto: Philip Rothe
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Nicht als schöngeistiger Romancier trat Bernhard Schlink, in Heidelberg aufgewachsener Autor des Weltbestsellers "Der Vorleser", im voll besetzten DAI auf. Während des Gesprächs mit Manfred Osten zeigte sich Schlink vielmehr von seiner anderen Seite, als Jurist, der pragmatisch nach Problemlösungen sucht. Ausdrücklich ging es ihm an diesem Abend nicht um die "großen Fragen und weiten Horizonte", sondern um die Alltagskultur als Leitkultur.
Schlink unterscheidet zwei Aspekte dieser Leitkultur. Der eine besteht darin, dass die Deutschen sich im Globalisierungszeitalter selbst versichern wollen, wer sie sind - auch im Verhältnis zu Migranten und Flüchtlingen. Auf diese bezieht sich die zweite Funktion der Leitkultur: Sie soll den Neuankömmlingen Vorgaben bieten, damit sie sich in Deutschland integrieren können. Und die Identität der Deutschen kann reicher, zudem vielfältiger sein als das Vorgabenbündel, das lediglich die Voraussetzung für ein funktionierendes Zusammenleben ist.
Auch wenn sich die Einheimischen ein Stück weit mit der Verfassung identifizieren, den Rechtsstaat schätzen oder sogar lieben, so muss der Zuwanderer diese Gefühle nicht teilen. Selbst für die Deutschen reicht das Grundgesetz zur Identitätsstiftung nicht aus. Schlink: "Man liebt nicht die Hausordnung, sondern man liebt das Haus mit den Menschen, die darin wohnen." Über das Grundgesetz hinaus geht es auch um nationale Identität sowie darum, was die Deutschen ausmacht, also auch um Traditionen und Kultur.
Verfassungspatriotismus oder Liebe zu Deutschland mögen bei den Zuwanderern vielleicht über Generationen wachsen. "Aber für die Integration müssen wir sehr viel bescheidener sein", so Schlink. Sie verlangt die Anerkennung einer Leitkultur, welche die Erwartungen umfasst, die im alltäglichen Umgang als unabdingbar vorausgesetzt werden. Denn "Leitkultur ist für mich eine Alltagskultur", erklärte Schlink.
Zentrale Bausteine dafür sind Beherrschen der Sprache, Wahrung der Umgangsformen, friedliches Auftreten, Bereitschaft zu Kompromiss und Gespräch sowie Erbringung zugesagter Leistungen. Die Alltagskultur ist insofern eine Leitkultur, als sie das Verhalten der Menschen leitet.
Ein sehr wichtiger Vermittler dieser Alltagskultur ist die Schule. Je mehr heutzutage die Bedeutung der Familie abnimmt, desto stärker nimmt diejenige der Schule zu, gerade auch im Hinblick auf die Kinder von Migranten. "Unsere Schulen leisten Großes, nur unsere Politik lässt sie sträflich im Stich", kritisierte Schlink. Auch die Lehrer würden bei Konflikten "sträflich allein gelassen". Er forderte deshalb gute Ganztagsschulen. Das in der Politik anzutreffende Bild von Harmonie und Multikulturalität verdecke, was die Schulen brauchen.
Die andere Instanz, welche die Alltagskultur aufrechterhält, sind öffentliche Sicherheit und Ordnung, repräsentiert durch die Polizei. Auch sie wird nach Ansicht Schlinks stiefmütterlich behandelt. Die Zuwanderung bringe zwar viel Fremdes mit, aber man müsse sich nicht an herrschende Clans in den Städten oder an aggressives Verhalten gewöhnen.
Die starken Wandlungen in der Familie - Stichwort Patchworkfamilie - kann der Staat nur wenig steuern, sodass die Schule immer wichtiger wird. Und bei der dort vermittelten Leitkultur hilft Kulturpessimismus nicht weiter, sie stellt vielmehr ein Arbeitsprogramm für die Zukunft dar. Für Schlink investieren Staat und Politik viel zu wenig in die Schulen, aber auch den Umgang der heutigen Eltern mit den Lehrern hält er für einen Skandal: Sie hielten immer nur zu ihrem Kind.
Schließlich ging es auch um die Ausbildungsphasen vor und nach der Schule. In lebensgeschichtlicher Hinsicht wurde dezidiert festgestellt: "Die Kita ist wichtiger als die Universität", denn im frühen Kindesalter werden die Grundlagen ausgebildet. Und anschließend sollte eine Ganztagsbeschulung folgen.
Den Satz "Wir schaffen das!" von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Bezug auf den Flüchtlingszustrom von 2015 führte Schlink mit den Worten fort: "Das müssen wir jetzt auch schaffen."