Harald Lesch in Heidelberg

"Es brennt an allen Ecken und Enden"

Mit gleich zwei Auftritten war Harald Lesch beim DAI-Festival "Geist Heidelberg" zu sehen. Einmal ging es quer durchs Universum und dann musikalisch durch die Zeit.

08.11.2021 UPDATE: 09.11.2021 06:00 Uhr 4 Minuten, 31 Sekunden
Bringt Vivaldi und die Erdhistorie in Einklang: Harald Lesch. F.: A. Müller

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Mit zwei Auftritten in Heidelberg war Harald Lesch beim DAI-Festival "Geist Heidelberg" zu Gast.

Beim ersten Auftritt stellte er die Frage "In was für Zeiten leben wir?". In der voll besetzten Neuen Aula ging es mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durchs Universum, rhetorische Steilkurven führten ebenso um Außerirdische und extrasolare Planeten wie um Corona, Klimawandel, Digitalisierung oder Energiewende.

Humorvollen Warp-Schub erhielt die Wissenschafts-Mission durch Witze und Kalauer, teilweise in Mehrfach-Loopings. Dabei wurde der interstellare Staub des Routine-Alltags aufgewirbelt, und die mitgerissene Aula-Crew erhielt freieren Blick auf die Weiten des Weltraums – vor allem auf die menschengemachten Probleme vor der Haustür.

Während der Corona-Pandemie wurde überdeutlich, dass der fortschreitende Erkenntnisprozess der Wissenschaft stark in der Gesellschaft verankert ist. Lesch: "Alles um uns herum ist künstlich." Und: "Naturwissenschaften leben davon, dass sie zwischen Theorie und Experiment einen Wettbewerb ausgerufen haben, der jetzt seit über 400 Jahren unentwegt läuft."

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Der Münchener Astrophysiker, der in der Zeit von 1988 bis 1991 als Forschungsassistent an der Landessternwarte auf dem Königstuhl seine "erste Gesellenprüfung in Astronomie" ablegte, betrachtete das Treiben auf der Erde aus der distanzierten Perspektive von Außerirdischen. Denn: "Dem Universum geht’s gut. Es expandierte auch in den letzten zwei Jahren und hat trotz Corona keine Maske getragen."

Wie würde E.T. den Blauen Planeten sehen, auf dem etwa im August 2019 riesige Kohlenmonoxid-Schwaden durch die Atmosphäre trieben, ausgelöst durch katastrophale Brände in Afrika, Brasilien und sogar in der sibirischen Tundra? Aber wer ist der Außerirdische überhaupt? Da die Naturgesetze überall im Universum gelten, ist er "auch nur ein Mensch".

Er muss ein Raumschiff gebaut haben, also über Naturwissenschaften und Technologie verfügen. Allerdings ist der längere Aufenthalt in der Schwerelosigkeit gefährlich, die kosmische Strahlung verändert die Gehirne von Raumreisenden erheblich. Nach wenigen Monaten kommt es zu Alzheimer-ähnliche Erscheinungen. Sind deshalb so viele Ufos "bei uns abgestürzt?" Die Ankunft von Außerirdischen "ist vielleicht der Besuch von irgendwelchen Irren".

Von Schrauben und Müttern

Solche Überlegungen lassen auch den aktuellen Wettbewerb im Weltraum-Hüpfen unter Multimilliardären wie Jeff Bezos nicht im besten Licht erscheinen. Wären die immensen finanziellen Mittel nicht besser auf der Erde in die Versorgung aller Menschen mit Corona-Impfstoff geflossen? Aber das Silicon Valley – und das sind vor allem "Jungs" – eröffnet "die große Aussicht auf eine digitale Zukunft, die völlig sauber ist". Wie im Science-Fiction-Film soll alles eine sterile, weiße Oberfläche haben.

Diese Technikvorstellung wird zwar "in keiner Weise von der Wissenschaft getragen", aber sie hat sich in Politikerhirnen eingeprägt: "Jetzt wäre doch die Chance, endlich ein für alle Mal alles zu digitalisieren." Für unser Leben soll das heißen: "Raus aus der ganzen Wirklichkeit, hinein ins Digitale." Leschs Horrorszenario: "Wir begegnen uns demnächst nur noch als Avatare im Metaverse von Mark Zuckerberg."

Es folgte die kürzeste Definition von Freuds Psychoanalyse: "Wenn bei jemandem die Schraube locker ist, dann ist immer die Mutter schuld." Widersprüchlich ist auch die Vergeudung fossiler Ressourcen: "Was wir wirklich verbrennen, ist gespeicherte Erdzeit." Die durchschnittliche Motorisierung von Neuwagen lag 2020 in Deutschland bei 165 PS. Und Lesch fragte: "Wer braucht solche Autos?" Offenbar gibt es "für uns nur die Gegenwart". Möglicherweise sind auch die Außerirdischen nur deshalb losgeflogen, weil sie ihre Heimat ausgebeutet haben.

Allerdings bietet das Weltall für Menschen keine wirkliche Alternative. Die Planeten sind Millionen Lichtjahre voneinander entfernt – und ein Lichtjahr entspricht 9,46 Billionen Kilometern. Lesch: "Wer sich auf interstellare Reisen begibt, ist für immer auf Reisen."

Und weiter: "Technik ist nicht die Lösung all unserer Probleme. Wir müssen sie selbst lösen." Auch zur Frage, ob Kernkraftwerke für die Erreichung der Klimaziele weiter genutzt werden sollten, äußerte sich Lesch klar: "Es kann nicht sein, dass wir über Tausende von Jahren uns darum kümmern müssen, wo dieser Müll liegt." Die Kernenergie birgt weiterhin das Potenzial "einer Katastrophe".

Unter Bezugnahme auf den Journalisten Andrian Kreye ("Süddeutsche Zeitung") schloss der populäre Welterklärer, indem er noch einmal die Digitalisierung in den Blick rückte: "Wenn Daten das neue Öl sind, dann ist die Künstliche Intelligenz das neue Plutonium."


Bei seinem zweiten Abend in Heidelberg begab sich Harald Lesch mit dem Merlin Ensemble Wien auf eine musikalische Zeitreise: Berühmt ist die Verbindung von klassischer Musik und Universum in Stanley Kubricks Science-Fiction-Film "2001. Odyssee im Weltraum" aus dem Jahr 1968. Da dockt etwa ein Raumschiff zu Johann Strauss‘ Walzer "An der schönen blauen Donau" bei einer Station im Weltall an. Ganz anders, aber ebenfalls sehr gelungen war nun die Kombination von Antonio Vivaldis Violinkonzerten "Die vier Jahreszeiten" (1725) mit Harald Leschs Reise durch die Geschichte unseres Sonnensystems wie auch der Erde.

Während das achtköpfige Merlin Ensemble Wien unter Leitung von Martin Walch (Solovioline) musikalisch den (Gefühls-) Kosmos der Natur auf unserem Heimatplaneten entfaltete, umkreiste der Astrophysiker Lesch erzählerisch den Globus, mit besonderem Blick auf die Atmosphäre und das Klima. Beim DAI-Festival "Geist Heidelberg" in der Aula der Neuen Universität bildeten die wunderbar mit teilweise über 300 Jahre alten Instrumenten dargebotenen "Jahreszeiten" und die schlimmen Botschaften zum Planeten Terra einen bizarren, schön-schrecklichen Kontrast.

Dabei trägt die Erde in den "galaktischen Chroniken" noch Namen wie Paradies oder Blaue Perle. Im Zuge der Entstehung des Sonnensystems erhält sie eine geneigte Drehachse, durch deren Kippung die Jahreszeiten entstehen. Im Frühling reagieren alle Lebewesen auf das neue Licht. Die Natur erwacht dank des Wassers. Dieses kommt aus einer Wolke, in der sich das ganze Sonnensystem gebildet hat. Wasser ist galaktisches Material, geliefert vom "Zalando der Milchstraße", nämlich durch Asteroiden und Kometen.

Zunächst wurden alle Planeten mit Wasser versorgt, aber einige konnten damit nichts anfangen. Etwa der Mars – heute das große Ziel vieler Silicon Valley-Boys – ist "inkontinent", er kann nichts erhalten. Nur unser Planet hielt alles fest.

Jedoch blühen hier die Bäume und Blumen immer früher. Schon vor dem Sommer gibt es in vielen Ländern Brände: "Offensichtlich kommen sehr heiße Zeiten auf uns zu." Die letzte Abkühlung gab es durch die Kleine Eiszeit vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Gefühlt dauert der Sommer heute viel länger. Der "Kernfusionsreaktor Sonne" hält uns am Leben.

Ohne Atmosphäre wäre die Erde eine weiße Eiskugel mit einer Temperatur von -18 Grad. Durch die Atmosphäre sind es allerdings +15 Grad – das ist der natürliche Treibhauseffekt. Aber dieses Gleichgewicht zerstören wir durch Schadstoffe: Die Gletscher auf dem Land schmelzen, und die Meere steigen.

Für die letzten Jahre auf der Erde stellte Lesch fest: "Es brennt an allen Ecken und Enden." Und auch in Deutschland "schüttet es immer öfter biblisch". Jetzt im Herbst hat das arktische Eis sein Minimum erreicht. Seine Reflektionsfähigkeit schwindet, und das zusätzliche Wasser speichert noch mehr Sonnenenergie. Gletscher- und Eisschmelze sind "eine der größten Katastrophen in der globalen Erwärmung". Und: "Es brauchte eine schwedische Schülerin, um uns aufzuwecken."

Im arktischen Winter sollte es kalt sein. Aber auf Spitzbergen werden Menschen Anfang Dezember 2019 wegen Starkregens evakuiert. Am Ende des Jahres geht alles wieder von vorne los. Womöglich geht aber auch bald alles unter, "weil wir uns nicht anständig gegenüber der Mitwelt verhalten". Und zum Schluss fragte Lesch: "Kommen jetzt bald nur noch Winter, die Sommer sind?"

Trotz oder wegen Betroffenheit: starker Applaus.

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