Liebevoller Blick nach Heidelberg
Die Friedenspreisträger über Deutschland, Bücher, Heimat und Hilde Domin

"Heidelberg bot ein sehr gutes Klima für interdisziplinäre Kontakte." Das sagen die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann, die am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Foto: Corinna Assmann
Von Heribert Vogt
Heidelberg/Konstanz. Das RNZ-Gespräch mit den beiden Kulturwissenschaftlern Aleida und Jan Assmann, die am Sonntag gemeinsam mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt werden, fand an ihrem Wohnort Konstanz am Bodensee statt.
Frau Assmann, in Ihrem Buch "Menschenrechte und Menschenpflichten", das nun in erweiterter Form vorliegt, plädieren Sie für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Was soll er enthalten?
Aleida Assmann: Es geht um das soziale Miteinander. Ich fand es sehr interessant, dass Angela Merkel in ihrer Antrittsrede als Bundeskanzlerin wiederholt den Begriff "vor der Haustür" verwendete. Das Migrationsgeschehen betrifft jeden. Hier spielen sich plötzlich Dinge ab, die nicht mehr delegierbar sind. Die Öffentlichkeit tritt jetzt in die allerengste Reichweite. Gleichzeitig ist in der Gesellschaft sehr viel Konfrontation und Polarisierung entstanden. Dabei hat sich der Umgangston erheblich verschärft und der allgemeine Anstand verflüchtigt. Das hat sicher auch etwas mit dem Internet zu tun, wo neue Kommunikationsformen ohne gegenseitigen Austausch entstehen. Man kann lauter schreien, wenn man kein Gegenüber hat. Vielleicht ist auch die Kunstform des Rap ein Vorbild, die den Protest rhythmisch einhämmert und die Wut aus dem Bauch herausschreit. Solche Wutentladungen treffen heute in der Gesellschaft aufeinander. Den rohen Ton und Hass-Tiraden gibt es auch anderswo; es ist gerade ‚in’, brutal und direkt zu sein.
Was kann man gegen die wachsende Aggressivität tun?
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AA: Die Atmosphäre der Gewalt und Verrohung ist kein gutes Klima für die schwierige Aufgabe, so viele Migranten aufzunehmen und zu integrieren. Dafür braucht man ein stabiles Netz, das nicht sofort zerreißt oder schon zerrissen ist. Ich setze deshalb auf der einfachen Ebene der Umgangsformen an. Über diese Probleme haben Menschen schon seit 5000 Jahren nachgedacht und entsprechende Verhaltensregeln aufgestellt. Beispiele solcher Texte habe ich unter dem Stichwort ‚Menschenpflichten’ zusammengestellt. Die Menschenrechte sind in Europa und den USA erfunden worden, es gibt aber keine Kultur oder Religion auf der Welt, die nicht die Menschenpflichten und die ‚goldene Regel’ erfunden und als wertvoll tradiert hätte. Nach dieser Weisheitstradition gelingt ein friedliches Zusammenleben nur, wenn man nicht egoistisch ist, sondern das eigene Verhalten am Wohl des Anderen ausrichtet, egal, ob der Andere ein Fremder, Zuwanderer oder Einheimischer ist. Diesen Faden der Gemeinsamkeit habe ich aufgenommen und in die Gegenwart geholt. Anders als eine Leitkultur, die die Unterschiede betont, geht es mir um eine gemeinsame ‚Hausordnung’ für alle Menschen.
Jan Assmann: Gegen die Verrohung des Tons in der Öffentlichkeit sind schon die alten Ägypter vorgegangen. Vor dem Totengericht mussten sie eine Liste der nicht begangenen Sünden aufzählen. Und etwa zwanzig dieser Sünden betreffen den kommunikativen Ton, zum Beispiel das Schimpfen oder Brüllen. Und dann gab es den Gott Seth - eine Art Teufel -, der auch für den Donner zuständig war und Schreihals genannt wurde. Im Zorn über die Menschen brüllte er im Himmel herum, ähnlich wie ein twitternder Donald Trump. Dieser ägyptische Abscheu vor unkultiviertem Verhalten, das bei uns allmählich gang und gäbe wird, zeigt deutlich, wie alt die Wichtigkeit ziviler Umgangsformen ist. Sie steckt schon in den Fundamenten des menschlichen Zusammenlebens.
Herr Assmann, in Kürze erscheint Ihr neues Buch "Ägyptische Religion. Götterliteratur". Was ist Ihnen dort besonders wichtig?
JA: Das Buch versammelt Texte zu ägyptischen Ritualen und zu einer Theologie, in der es vor allem um die Beziehung von Gott und Göttern geht. Auch im Alten Ägypten gibt es eine Art von Monotheismus, nämlich die Idee, dass die Welt - einschließlich der Götterwelt - aus einem Gott entstand, der stets im Blick blieb. Diese pantheistische Idee spielte bis ins 18. europäische Jahrhundert eine wichtige Rolle. Diesen wie auch den Vorläuferband zur ägyptischen Totenliteratur habe ich zusammen mit Andrea Kucharek erstellt. Beide Bücher bringen die unendliche Fülle der ägyptischen religiösen Texte in einen überschaubaren Zusammenhang.
Frau Assmann, Ihr Leben und Ihre Forschungen sind stark mit Heidelberg verbunden. Hier erhielten Sie noch 2017 als Paar den Karl-Jaspers-Preis. Und hier entwickelte sich auch Ihr kulturwissenschaftlicher Ansatz?
AA: Heidelberg bot ein sehr gutes Klima für interdisziplinäre Kontakte. Eine ganz wichtige Rolle spielte für mich der Germanist Dietrich Harth, der mich als wissenschaftliche Hausfrau in seine Projekte einbezogen hat. Er organisierte eine Tagung über Karl Jaspers und mit ihm zusammen habe ich meine ersten Sammelbände über das Kulturelle Gedächtnis veröffentlicht.
JA: Mir war klar, dass Kulturwissenschaft nur kooperativ praktiziert werden kann. Darum gründeten wir 1977 den Arbeitskreis "Archäologie der literarischen Kommunikation". Schon zwischen Aleida und mir bestand immer ein interdisziplinärer Dialog, den wir auf andere Partner und Fächer ausweiten wollten. Aleida war in dem Arbeitskreis, der noch immer aktiv ist, auch während ihrer "Hausfrauenjahre" eine Zentralfigur.

Im Fall der Dichterin Hilde Domin (1909-2006) sieht Aleida Assmann den Heidelberger "Resonanzraum seit ihrem Tod deutlich geschrumpft". Foto: Erwin Elsner
AA: Hilde Domin hatte in Heidelberg ja einen großen Freundeskreis und ich war dankbar, dazuzugehören. Die Verbindung mit ihr wurde dann viel enger, als sie mich bat, sie während der Krankheit ihres Mannes zu begleiten. An Hilde Domin habe ich ihre Fähigkeit des Aufmerkens, ihre Direktheit und die Präzision ihrer Sprache bewundert, sowie die Kraft, Bindungen zu knüpfen und zu pflegen.
Wie sehen Sie Hilde Domin im Heidelberger Gedächtnis aufgehoben?
AA: In Heidelberg ist Hilde Domin im ‚kommunikativen Gedächtnis’ noch eine Weile gut aufgehoben, aber darüber hinaus beginnt es zu bröckeln. Ich habe das Gefühl, dass der Resonanzraum seit ihrem Tod deutlich geschrumpft ist. Ihr Ruhm beruhte ja nicht nur auf ihren veröffentlichten Texten, sondern gerade auch auf ihrer ausstrahlenden Persönlichkeit und ihren mitreißenden Auftritten. Mich interessiert aber auch das Ehepaar Palm, das in Heidelberg bei Karl Jaspers studiert hat. Erwin Walter Palm war ein Universalgelehrter, der sich mit präkolumbianischer Kunst beschäftigte, Lorca übersetzte und auch selbst Gedichte schrieb. Er war es, der die Interdisziplinarität in die Heidelberger Altertumswissenschaften einführte, als er eine richtungsweisende Ringvorlesung über "Archaik" organisierte. Solche Impulse kommen bezeichnenderweise nicht aus dem Zentrum der Fächer, sondern von der Peripherie. Hier ist auch der Psychiater Hubertus Tellenbach zu nennen, der unter dem Eindruck der 1968er Revolte eine beeindruckende Serie von interdisziplinären Seminaren über das Vaterbild in verschiedenen Kulturen und Epochen begann. Beide ‚kulturwissenschaftlichen’ Initiativen gehen in die frühen 1970er Jahre zurück!
Mit welchen Augen schauen Sie heute vom Bodensee auf Heidelberg?
AA: Dort sind wir nach wie vor ebenfalls zuhause. Jan ist dort ja ständig in Tagungen und Vorlesungen präsent. Vieles hat sich in Heidelberg verändert, aber in Handschuhsheim hatte ich schon meine Schulwege und da sind auch meine Kinder geboren. Kein Wunder, dass wir da heimatliche Gefühle behalten.
JA: Mit liebevollen Augen schauen wir nach Heidelberg. Und die Entfernung verstärkt diese Liebe noch.
Info: Aleida Assmann: "Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft". Picus Verlag, erweiterte Auflage; Wien 2018. 192 S., 22 Euro.
Jan Assmann, Andrea Kucharek (Hrsg.): "Ägyptische Religion. Götterliteratur". Übersetzung aus dem Altägyptischen. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2018. 1084 S., 68 Euro (erscheint am 22. Oktober).