Einsätze in Corona-Zeiten

"Die Virusangst ist eine fatale Entwicklung"

Eberbachs Leitender Notarzt Dr. Patrick Schottmüller über Einsätze in Corona-Zeiten, Risikopatienten, Fluchtpunkte und die Psyche

19.06.2020 UPDATE: 20.06.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 4 Sekunden
Der Leitende Notarzt des Rhein-Neckar-Kreises Dr. Patrick Schottmüller gibt Corona-Tipps am Eberbacher Neckarlauer. Foto: Birkelbach

Von Martina Birkelbach

Eberbach. "Ich musste keinen einzigen Satz zurücknehmen", sagt Dr. Patrick Schottmüller. "Die Letalität des Covid-19-Virus ist deutschlandweit bei etwa einem Prozent geblieben", betont der Leitende Notarzt des Rhein-Neckar-Kreises und ärztlicher Leiter im Notarztwesen Eberbach. Vor rund drei Monaten hat er Tipps zur Corona-Lage gegeben (wir berichteten am 28. März). Inzwischen ist viel passiert. Die Tödlichkeit des Virus ist jedoch niedrig geblieben: "Sie liegt sicher weit unter einem Prozent, wenn man die Dunkelziffer der stillen Feiung, also der stummen Infektionen, die nicht erkannt werden, mit dazurechnet."

Nach wie vor ist für den 50-Jährigen, der 30 Jahre Erfahrung im Rettungsdienst und 20 Jahre im ärztlichen Dienst hat, das Wichtigste überhaupt, "die Angst zu bekämpfen". Während er noch Ende März von deutlich steigenden Notarzteinsätzen wegen hohen Blutdrucks, Herz-Kreislauf-Problemen und Panikattacken berichtete, hat es Anfang April mit dem Shutdown eine "bemerkbare Senkung der Notarzteinsätze in ganz Baden-Württemberg" gegeben.

"Die Menschen hatten Angst, Praxen und Kliniken aufzusuchen oder den Notarzt zu rufen." Schottmüller betont: "Die Virusangst stand über allem". Auch wenn inzwischen die meisten Praxen wieder geöffnet haben, ist diese Angst noch nicht völlig verschwunden. "Das ist fatal, wenn etwa ein Herzpatient Untersuchungen braucht", sagt der Notarzt. Erst kürzlich hatte er einen "schweren Einsatz" bei einem Patienten, dessen Herzprobleme im Laufe der Zeit "in einen Herzinfarkt gegipfelt" sind. "Aus Angst davor, rechtzeitig einen Arzt aufzusuchen." Die Einsätze waren also weniger, dafür aber "umso härter". "Es gab einige Patienten mit akuten Herz- und Lungenerkrankungen, die unter Beatmung in die Klinik gefahren wurden –, allerdings ohne dass sie vom Virus befallen waren; wir haben in der GRN-Klinik Eberbach bislang einen diagnostizierten Covid-Verstorbenen", so Schottmüller.

"Das Virus wird uns noch jahrelang begleiten", ist er überzeugt. Deshalb möchte er keinesfalls das Risiko, sich zu infizieren, verharmlosen, "aber auch nicht überbewerten". "Die Hygieneregeln sind weiter wichtig. Der Abstand muss eingehalten werden, vor allem in geschlossenen Räumen. Wo kein Abstand möglich ist, muss der Mund-Nasenschutz angezogen werden." Im Freien oder im Auto jedoch ist die Maske "unnötig und sinnlos". Ganz wichtig ist es, Masken oft zu wechseln oder zu waschen: "Masken sind ein idealer Nährboden für Keime, Bakterien und Viren. Wer sie zu lange trägt, ist hochgradig gefährdet, dem ausgesetzt zu sein." "Wenn wir zehn Jahre lang mit Masken rumlaufen, sterben wir an jeder kleinen Grippe, weil unser Immunsystem verkümmert. Kontakt mit anderen Keimen muss manchmal sein – nur so haben wir überlebt." Auch Einmalhandschuhe dürfen nur einmal getragen werden, deshalb der Name "Einmalhandschuhe". Bei längerem Gebrauch oder Mehrfachverwendung werden sie sonst zu gefährlichen Keimschleudern.

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Auch Lüftung in geschlossenen Räumen ist wichtig: "Am besten alle 20 Minuten Durchzug." Schottmüller erzählt, dass das Öffnen von Fenstern und Balkontüren oft die erste "Amtshandlung" bei seinen Notarzteinsätzen ist. Händewaschen mit Seife "macht Sinn", sagt er. Er warnt aber vor extremer Desinfektion mit aggressiven Mitteln: "Das führt zu schweren Störungen des Säureschutzmantels der Haut, ist somit schädlich und ermöglicht ein Eindringen pathogener Erreger – insbesondere bei Kindern". Das Virus übertrage sich vor allem durch aerogene Partikel in der Luft, beim Sprechen oder Husten, weniger über Alltagsgegenstände. "In der Medizin geht es nicht nur An oder Aus, da muss man Mittelwege finden."

Die "Virusangst" ist für Schottmüller eine "fatale Entwicklung". "Diese Angst muss in einen gesunden Menschenverstand umgewandelt werden." Schlimm ist es, wenn durch diese Angst die Ersthelfer-Kette durchbrochen wird. Wenn ein Helfer vor Ort nicht hilft, weil er den Mindestabstand dabei nicht gewähren kann. "Wir alle in der Medizin haben ein erhöhtes Infektionsrisiko, wir Ärzte stehen an vorderster Front, nicht die Virologen. Auch ich bin nicht immun, auch ich habe kein Gegenmittel. Das Personal in Altenheimen, Krankenschwestern, Polizeibeamte, Feuerwehrkameraden – sie alle können in Notfällen keinen 1,50-Meter-Abstand garantieren." So sollte auch ein Ersthelfer helfen, auch wenn er dabei die Regeln bricht. "Ein Ersthelfer ist das wichtigste Glied in der Rettungskette, bis der Rettungsdienst kommt, dauert es fünf bis acht Minuten – und acht bis zehn Minuten ohne Herzdruckmassage, dann ist der Patient tot. Auch ein Lehrer muss bei einem Kind eine Blutung stillen, er kann nicht wegbleiben."

Die täglich veröffentlichten Infiziertenzahlen sind für Schottmüller "Panikmache". "Wir müssen die Genesenen abziehen. Interessant ist nur die Zahl der akut Infizierten, darauf müssen wir uns fixieren. Wir sammeln ja auch nicht jährlich die behandelten, therapierten und überlebten Herz-Kreislauf-Erkrankungen." Zudem müsste seiner Meinung nach bei jedem an Covid verstorbenen Patienten eine Obduktion gemacht werden; "damit haben wir viel zu spät begonnen".

Eine klare Aussage macht er zu den sogenannten Risikopatienten: "Bei uns in der Medizin ist das ein Patient mit schweren Vorerkrankungen. Dazu gehören schwere Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen oder schwere Nierenfunktionsstörungen, chronische Vorerkrankungen mit Bettlägerigkeit, schwere Stoffwechselstörungen und Alkohol- oder Drogenabhängigkeit." Schottmüller betont: "Normale zivilisationsbedingte Alterserkrankungen, wie Bluthochdruck, Adipositas oder Diabetes bedeuten nicht, dass man Risikopatient ist." So ist etwa ein 60-jähriger, leicht adipöser und unter Bluthochdruck leidender Chirurg ein "Arzt mit den besten Erfahrungen und Fähigkeiten in seinem Fachbereich der Medizin" und kein "Risikopatient".

Die über Bürgermeister Peter Reichert geleiteten Krisensitzungen, die Ende März noch täglich stattfanden, finden inzwischen seit Pfingsten nur noch wöchentlich statt; "da werden die Maßnahmen des Landes und die Umsetzungen und Reaktionen der Stadt Eberbach besprochen".

Wichtig ist für den Leitenden Notarzt ein gesundes Immunsystem, "dazu führen Sport und Bewegung, Vitamin D – Sonne tanken, raus in die Natur, und auch das psychische Wohlbefinden". Die Schulöffnungen waren laut Schottmüller dringend notwendig, "wir haben die Schüler viel zu lange alleine gelassen".

Die Suizidrate steige deutschlandweit an, "es gab jetzt in einem Monat so viele Suizide wie sonst in einem Jahr". "Wir müssen zu einer gewissen Normalität zurück, wir müssen uns Fluchtpunkte im Leben suchen, sonst halten wir das nicht durch. Wir müssen jetzt raus an die frische Luft, im November ist es sicher wieder ungemütlicher. Die menschliche Psyche ist wichtig, wir dürfen sie uns von dem Virus nicht kaputtmachen lassen – ohne gute Psyche, kein funktionierendes Immunsystem".

Für Schottmüller und seine Familie heißt der Fluchtpunkt bald Mallorca. "Das ist unser Urlaub dieses Jahr, seit einem Jahr gebucht – wir fliegen." Und er hofft darauf, bald wieder ins Hoffenheim-Stadion gehen zu können. Nach wie vor gilt für ihn: " Mal ein Glas Wein oder Bier am Abend zur Förderung des Wohlbefindens ist erlaubt." Und so hatte Corona für ihn auch positive Seiten: "Ich habe gute (sym)badische Weine gefunden".

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