Warum sich "psychische Ausnahmezustände" häufen
Experte erläutert nach dem Tötungsdelikten von Ellerstadt und Mannheim den Begriff des "psychischen Ausnahmezustands" und bemerkt eine Häufung der Fälle.



Leiter der Forensischen Psychiatrie des ZI in Mannheim
Von Carsten Blaue
Mannheim. Erst zwei tödliche Polizeieinsätze Anfang Mai in Mannheim, bei denen wohl beide Verstorbene psychisch krank waren, und am vergangenen Sonntag erneut erschütternde Ereignisse in der Quadratestadt, für die ein Mann in "psychischem Ausnahmezustand" der Hauptverdächtige ist: Ein 36-Jähriger soll im pfälzischen Ellerstadt erst seinen Vater getötet und auf der Flucht unweit des Rheinauer Hafens eine Fahrradfahrerin absichtlich angefahren haben. Die 71-Jährige erlitt tödliche Verletzungen. Drei andere gerammte Fahrradfahrer wurden schwer verletzt. Die RNZ sprach mit Prof. Dr. Harald Dreßing, dem Leiter der Forensischen Psychiatrie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim (ZI), über die Häufung der Fälle, den Begriff des "psychischen Ausnahmezustands" und das Ende einer stationären Behandlung der Patienten.
Herr Professor Dr. Dreßing, ist die jüngste Häufung der Delikte, in die Menschen im "psychischen Ausnahmezustand" verwickelt sind, erklärbar? Gibt es vielleicht vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen mehr Menschen, die der psychologischen Betreuung bedürfen oder bedürfen würden, ohne es zu wissen?
Ob sich Amokfälle tatsächlich häufen, kann man nach derzeitigem Kenntnisstand nicht sagen, das muss man immer im langfristigen Verlauf sehen, es gibt da immer auch Häufungscluster, da solche Geschehnisse einen starken Nachahmungseffekt haben. Inwieweit die aktuelle Häufung von Krisen tatsächlich eine Zunahme psychischer Erkrankungen bedingt, dazu haben wir noch keine belastbaren Erkenntnisse aus großen epidemiologischen Studien. Grundsätzlich denkbar ist das schon, da Stress ein bekannter Faktor in der Verursachung psychischer Erkrankungen ist.
Was bedeutet eigentlich "psychischer Ausnahmezustand", von dem die Polizei in diesen Fällen immer spricht? Welche Erkrankungen können dahinter stehen?
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"Psychischer Ausnahmezustand" bedeutet ein Zustand höchster affektiver Erregung, in dem der Einfluss rationaler Kontrollmechanismen herabgesetzt sein kann. Ein solcher Zustand bedeutet nicht automatisch, dass eine psychische Erkrankung dahinter stecken muss. Affektive Ausnahmezustände gibt es auch bei psychisch Gesunden.
Sind Menschen mit psychischen Erkrankungen eher gewaltbereit als gesunde?
Psychisch kranke Menschen sind in der Gesamtheit nicht gewalttätiger als nicht Erkrankte. Aus empirischen Studien haben wir aber robuste Erkenntnisse, dass Menschen, die an einer nicht behandelten schizophrenen Psychose erkrankt sind, etwa viermal häufiger gewalttätig sind als die Allgemeinbevölkerung, das Risiko für Tötungsdelikte ist bei dieser kleinen Patientengruppe sogar zehnfach höher. Besondere Risikosituationen liegen dann vor, wenn sich die Betroffenen nicht behandeln lassen. Behandelte und krankheitseinsichtige schizophrene Patienten haben kein erhöhtes Gewaltrisiko.
Kündigen sich solche Gewaltausbrüche im Vorfeld an? Gibt es Signale, die zum Beispiel auch Angehörige deuten können?
Wir haben als Psychiaterinnen und Psychiater ein gutes Instrumentarium für eine Gefahrenanalyse, bestimmte Wahnsymptome, bei denen sich Patienten vermeintlich bedroht fühlen, sind zum Beispiel ein Alarmsignal. Für Laien ist es schwierig, das richtig einzuschätzen. Eine Behandlung ist aber in Deutschland nur mit Einwilligung des Patienten möglich, eine zwangsweise Unterbringung ist nur bei akuter Eigen- oder akuter Fremdgefährdung möglich.
Im aktuellen Fall war der mutmaßliche Täter bis vor einer Woche in stationärer Behandlung. Wann gilt ein Patient medizinisch soweit, dass er entlassen werden kann? Gibt es Umstände, unter denen ein Patient entlassen werden muss?
Das Bundesverfassungsgericht hat sehr stark auch "ein Recht auf Krankheit" betont, das heißt, wir müssen auch kranke und eigentlich behandlungsbedürftige Patienten entlassen, die das wünschen, wenn keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt.
Werden entlassene Patienten anfangs außerhalb der Klinik begleitet und medizinisch weiter betreut?
Wir bieten entlassenen Patienten immer auch eine Nachsorge in der Institutsambulanz oder bei niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiatern an, das erfolgt aber immer auf freiwilliger Basis. Eine ambulante Zwangsbehandlung ist gesetzlich untersagt.
Was war geschehen?
Albtraum am Ende eines sonnigen Wochenendes: Die Rhenaniastraße, unweit des Rheinhafens im Mannheimer Süden, ist am Sonntagabend Schauplatz einer grausigen Amokfahrt geworden. Eine 71 Jahre alte Fahrradfahrerin verlor dort ihr Leben, nachdem sie ein 36-jähriger Autofahrer in "psychischem Ausnahmezustand" einfach umgefahren hatte. Drei weitere Fahrradfahrer verletzte er schwer, wie die Ermittlungsbehörden am Montagvormittag berichten. Der Mann, so die Ermittler, habe bewusst die Radler angefahren. Er war auf der Flucht, nachdem er im etwa 20 Kilometer entfernten Ellerstadt in Rheinland-Pfalz eine halbe Stunde vorher seinen 69 Jahre alten Vater umgebracht haben soll. Zwei getötete Menschen, drei Schwerverletzte: Polizei und Staatsanwaltschaft in Mannheim sprechen von "tragischen Ereignissen". Noch sind viele Fragen offen.
> Wegen psychischer Erkrankung in stationärer Behandlung: Die länderübergreifenden Ermittlungen hat die Mannheimer Staatsanwaltschaft übernommen. Nach ersten Ergebnissen war der Verdächtige wegen einer psychischen Erkrankung in ärztlicher Behandlung. Bis vor etwa einer Woche sei er stationär in einer Klinik behandelt worden. Auf Anfrage der RNZ teilte Erster Staatsanwalt Marc Schreiner mit, auch die "Krankengeschichte" des Verdächtigen sei Gegenstand der Ermittlungen. Noch gibt es also keine konkreten Erkenntnisse zu den Hintergründen der Entlassung des 36-Jährigen.
> "Körperlicher Angriff": Sicher ist, dass er seinen Vater im Wohnhaus der Familie "körperlich angegriffen" hat. Warum, ist wiederum völlig unklar. Welche Verletzungen zu dessen Tod geführt haben, soll laut Schreiner eine Obduktion klären. Die Mutter des 36-Jährigen sei zum Zeitpunkt der Tat im Haus gewesen. Der Sohn nahm danach ihren Renault Laguna und fuhr davon. Warum er ausgerechnet nach Mannheim flüchtete, sei ebenso Inhalt der Ermittlungen, so der Erste Staatsanwalt.
> Der Justiz bekannt: Nach Schreiners Angaben ist der 36-Jährige der Justiz in Frankenthal bekannt. So sei dort bei der Staatsanwaltschaft im Jahr 2020 ein Verfahren gegen den Mann wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, Sachbeschädigung und versuchter gefährlicher Körperverletzung wegen Schuldunfähigkeit eingestellt worden.
> Absichtlich gerammt: Aus Ellerstadt flüchtete er am Sonntag, bevor die ersten Beamten am Tatort eintrafen. Daher gab es keinen Kontakt zwischen dem Verdächtigen und der Polizei vor Ort, welche die Fahndung einleitete. Auf seine Spur kam schließlich die Mannheimer Polizei, als sie über einen Verkehrsunfall in der Rhenaniastraße und das Kennzeichen des Renaults informiert wurde. Der Unfallort war nach den ersten Erkenntnissen der Polizei wohl eher ein Tatort: Auf einer Strecke von etwa 1500 Metern rammte der Flüchtende die vier Fahrradfahrenden – ein Pärchen und zwei Radler, die einzeln unterwegs waren. Warum sie der 36-Jährige gezielt angefahren haben soll, sagte Schreiner nicht.
> Aus dem Fluss geborgen: Der Mann aus Ellerstadt lenkte sein Auto in eine Straße, die zu einem Becken des Rheinauer Hafens führt. Hier stellte er den Wagen ab, ging zu Fuß weiter, zog einen Teil seiner Kleidung aus und sprang in den Rhein. Dabei beobachtete ihn ein Zeuge, welcher den entscheidenden Hinweis gab. Ein Polizeihubschrauber lotste die Wasserschutzpolizei an die Stelle, an welcher der Verdächtige trieb. Die Beamten holten ihn aus dem Wasser und nahmen ihn fest. Laut Schreiner kollabierte der 36-Jährige nach seiner Festnahme und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Doch wird wohl angestrebt, den Mann später wieder in eine psychiatrische Klinik einzuweisen.