"Die soziale Sicherheit zerbröckelt"
Die Caritas und das Diakonische Werk erleben eine Zunahme der Bedürftigkeit.

Von Caspar Oesterreich
Neckar-Odenwald-Kreis. Deutlich mehr als sieben Prozent Inflation, Spritpreise jenseits von zwei Euro pro Liter, immer teurer werdender Strom, weiter steigende Mieten und Baukosten: Was Gutverdiener ärgern mag – vielleicht ein paar Abendessen weniger im Restaurant oder das Verschieben des Kurztrips ins Elsass bedeutet –, "führt für den ärmeren Teil unserer Bevölkerung zu einer echten Katastrophe", warnt Peter Zimmermann vom Sozialdienst des Caritasverbands für den Neckar-Odenwald-Kreis. "Wir erleben gerade ganz klar eine Zunahme der Bedürftigkeit", betont auch Caritas-Geschäftsführer Meinrad Edinger.
So treffen die Preissteigerungen nicht nur Sozialhilfeempfänger hart, sondern längst auch Beschäftigte im Niedriglohnsektor. "Es gibt auch mehr und mehr Arbeitnehmer mit Kindern, die trotz ihres Einkommens nicht über die Runden kommen, sich Lebensunterhalt und Wohnen quasi nicht mehr leisten können", sagt Zimmermann. Und Edinger ergänzt: "Es kommen immer Menschen zu uns in die Beratung, die mit ihren Jahresabrechnungen hadern, finanziell in die Bredouille geraten, wenn zum Beispiel die Waschmaschine defekt ist, neue Reifen fürs Auto gekauft werden müssen, die Tankfüllung nicht mehr für den Weg zur Arbeit reicht."
Rund 30 Personen pro Monat nutzten normalerweise die Existenzberatung der Caritas in Buchen, berichtet Zimmermann. "Im März kamen jetzt mehr als 60." Im vergangenen Monat habe er so viele Mittel aus der RNZ-Weihnachtsaktion bewilligt, wie er es 2021 zwischen Januar und März in Summe getan habe. Zunehmend falle es auch Menschen mit mittlerem Einkommen schwer, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. "Die soziale Sicherheit zerbröckelt immer weiter." Das Leben in Deutschland werde sich in den nächsten Jahren auf einem anderen Level bewegen, "weil die Preissteigerungen nicht mehr ausgeglichen werden", befürchtet Zimmermann.
Guido Zilling, Geschäftsführer des Diakonischen Werks im Neckar-Odenwald-Kreis, widerspricht da nicht. Auch er bezeichnet die aktuelle Preisentwicklung als "katastrophal für arme Menschen". "Die Kosten fürs Wohnen und den Lebensunterhalt sind in den unteren Einkommensschichten anteilig viel höher, als bei Menschen mit höherem Einkommen", macht er deutlich.
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Das Thema bezahlbarer Wohnraum begleitet das Diakonische Werk bereits seit Jahren – "so prekär wie im Moment war die Situation aber noch nie", sagt Zilling. Er erzählt von einer Frau, die ihrer gewalttätigen Beziehung nicht entfliehen konnte, weil sie für ihr Kind keinen Schulwechsel wollte und keine Wohnung in der Nähe fand, die sie sich leisten kann.
Das Problem bestehe nicht nur darin, dass die Regelsätze fürs Wohnen "dramatisch unterfinanziert sind", sondern auch, "dass Sozialhilfeempfängern quasi kein entsprechender Wohnraum zur Verfügung steht", erklärt Zilling. Es gibt klare Bemessungsgrenzen, welche Quadratmeterzahl für Alleinstehende, Paare und Familien finanziert wird. "Häufig liegt die Miete der verfügbaren Wohnungen aber über diesen Grenzwerten, sodass die Sozialhilfeempfänger selbst drauflegen müssen."
Wohnungen in Mosbach oder Buchen seien für sie, aber auch für Menschen mit Schufa-Eintrag, überhaupt nicht mehr zu bekommen, weshalb viele auf die kleineren Gemeinden im Umkreis ausweichen müssten. "Das bedeutet im Umkehrschluss meistens aber, dass sie es weiter bis zur Arbeit haben, ergo mehr Geld für Sprit und Auto ausgeben müssen, oder – falls das Angebot es überhaupt ermöglicht – viel länger mit Bus und Bahn unterwegs sind." Edinger und Zimmermann von der Caritas sprechen von einem "Teufelskreis". "Ein oder Zweizimmerwohnungen in den Zentren sind sündhaft teuer, das kann sich niemand mit einem kleinen Einkommen leisten."
"Ja, die Preissteigerungen am Wohnungsmarkt machen es für Menschen mit wenig Einkommen schwieriger, überhaupt eine bezahlbare Wohnung zu finden", bestätigt Renate Körber. Wer bereits eine Wohnung hat, so die Leiterin des Fachbereichs Jugend und Soziales des Landratsamtes, könne diese zwar in der Regel halten. "Insbesondere weil seit 2020 die Unterkunftskosten bei Anträgen nach dem SGB II und SGB XII in tatsächlicher Höhe berücksichtigt werden", was immerhin noch bis 31. Dezember 2022 gilt. "Dennoch spüren wir, dass die steigenden Mietpreise unseren Leistungsberechtigten schon seit geraumer Zeit zunehmend Probleme und Sorgen bereiten."
Insbesondere bei der Suche nach neuem Wohnraum gestalte es sich als Empfänger von Sozialleistungen schwierig, angemessenen Wohnraum zu finden, sagt Körber. "Die inzwischen auch im Kreis vorherrschende angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt verschärft diese Situation noch." Insgesamt sei aber festzustellen, dass es seit Pandemiebeginn (von einigen Schwankungen abgesehen) zu keiner außergewöhnlichen Zunahme an Sozialleistungsbeziehern kam. Auch das Antragsaufkommen im SGB II und SGB XII sei noch nicht "signifikant gestiegen", wobei allerdings beachtet werden müsse, "dass die höheren Energiepreise erst mit Verzögerung beim Verbraucher ankommen", sagt Körber.
Für die Empfänger von Wohngeld sei ein einmaliger Heizkostenzuschuss in Höhe von 135 Euro für Einpersonenhaushalte, 175 Euro für Zweipersonenhaushalte und für jede weitere Person 35 Euro vorgesehen. "Dieser wird von Amts wegen ohne Antrag bewilligt und soll im Sommer ausgezahlt werden" kündigt die Leiterin des Fachbereichs Jugend und Soziales an. "Auch für BAföG-Empfänger wird es einen Zuschuss in Höhe von pauschal 115 Euro geben."
"Wie müssen an allen Stellschrauben drehen, um den Lebensunterhalt der Menschen wieder zu sichern", sagt Caritas-Geschäftsführer Meinrad Edinger. Sehr wichtig sei der zügige Bau von Sozialwohnungen, betont er genauso wie Guido Zilling vom Diakonischen Werk und Renate Körber vom Landratsamt. "Auch Leerstände sollten schleunigst reaktiviert werden, so bekommen wir am schnellsten Wohnraum dazu", macht Zilling deutlich. Dass hier ungenutztes Potenzial verfügbar sei, habe die größtenteils private Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine im Landkreis gezeigt.