SAP-Personalchef

Cawa Younosi flüchtete als Jugendlicher aus Afghanistan

Heute ist er Personalchef bei SAP - "Man muss Menschen eine Chance geben"

26.06.2020 UPDATE: 27.06.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 54 Sekunden
Cawa Younosi, Personalchef bei SAP in Deutschland, wünscht sich, dass jeder eine Chance bekommt im Leben – unabhängig von seinem Hintergrund. Foto: ZG

Von Barbara Klauß

Walldorf. Niemand verlässt sein Zuhause – es sei denn, dieses Zuhause ist das Maul eines Hais. Dieses Zitat der somalisch-britische Autorin Warsan Shire steht auf einem Schild, das Cawa Younosi auf einem Foto in Händen hält, das er am Weltflüchtlingstag in sozialen Medien veröffentlichte. Die Corona-Pandemie und die aktuellen Proteste gegen Rassismus hätten gezeigt, wie dringend wir für eine inklusive und gleichberechtigte Welt kämpfen müssten, schrieb Younosi bei Twitter dazu – um eine Welt, in der niemand zurückgelassen werde.

Cawa Younosi selbst ist als Jugendlicher allein aus Afghanistan geflohen. Heute, mit 45 Jahren, ist er Personalchef für SAP in Deutschland. Früh musste er Verantwortung für sich übernehmen. Nun übernimmt er sie für 23.000 Mitarbeiter.

13 Jahre war er alt, als er in seiner Heimatstadt Kabul auf dem Rückweg von der Schule zum Militär eingezogen wurde. In letzter Minute konnte sein Onkel ihn davor bewahren. Der Vater, Chef eines großen Privatunternehmens, floh mit ihm und dem jüngeren Bruder aus dem Land, in dem der Bürgerkrieg tobte, nach Indien. Dort setzte er den Jungen schließlich in ein Flugzeug nach Europa. An den Abschied erinnert Younosi sich genau. Der Vater nahm ihn in den Arm und sagte: "Wenn du ins Bett gehst, denk daran, was du morgen machst, und nicht, was du gestern gemacht hast." Bis heute handelt Younosi danach. Natürlich präge die Vergangenheit die Gegenwart und habe Einfluss auf die Zukunft, sagt er im Gespräch mit der RNZ. Aber ans Morgen zu denken, heiße eher über Lösungen nachzudenken.

Erst im Flugzeug erfuhr der Junge, dass er auf dem Weg nach Deutschland war – in ein Land, das er nicht kannte. Nach der Ankunft in Frankfurt kam zu einer Pflegefamilie in der Nähe von Bonn, die bereits mehrere Kinder aufgenommen hatte – "eher aus finanziellen Gründen", wie Younosi sagt. Die Kinder seien sich selbst überlassen worden.

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Ihm blieb nur die Hoffnung. Er war nicht darauf eingestellt, für immer in Deutschland zu bleiben. "Ich habe darauf gehofft, zurückzugehen", sagt er. Darauf wartete er jeden Tag. Erst 1997/98, als die Taliban weite Teile Afghanistans erobert hatten, realisierte er, dass daraus nichts werden würde.

In der Zwischenzeit hatte er ein Jahr lang Deutsch gelernt, dann eine Gymnasialempfehlung bekommen – eher aus Zufall, wie er heute sagt. Er machte Abitur. "Und danach dachte ich: Okay. Was passiert jetzt?" Der junge Mann wusste schlicht nicht, welche Berufe möglich waren, dass man für manche studieren musste, welche Studiengänge es gab.

Younosi lebte von der Hand in den Mund. Doch er biss sich durch. "Das war Überlebensinstinkt", sagt er. Die finanzielle Not hat in stark geprägt. "Ich wollte alles machen, um aus dieser Not herauszukommen." Diejenigen, die in der Schule einen Startvorteil hatten, hat er zwar beneidet. "Aber das ist auch eine Typ-Frage", sagt er. Natürlich hätte er resignieren können. Ihn hat es eher angespornt.

Um sein Leben zu finanzieren arbeitete als Kellner und Handyverkäufer. Schließlich eröffnete er einen Kiosk, verkaufte ihn nach ein paar Wochen gewinnbringend, eröffnete einen neuen. Zwei Jahre lang arbeitetet er von früh morgens bis spät abends, schmierte Brötchen, verkaufte Zeitungen und Süßigkeiten – bis er körperlich am Ende war.

Hintergrund

Die Rassismus-Debatte führt auch in Wirtschaftsunternehmen zum Umdenken. So haben in den vergangenen Tagen etliche Firmen reagiert und etwa Produkte umbenannt oder neue entwickelt.

Pepsi: Der US-Lebensmittelgigant Pepsi gibt seiner 130 Jahre alten Marke "Aunt Jemima"

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Die Rassismus-Debatte führt auch in Wirtschaftsunternehmen zum Umdenken. So haben in den vergangenen Tagen etliche Firmen reagiert und etwa Produkte umbenannt oder neue entwickelt.

Pepsi: Der US-Lebensmittelgigant Pepsi gibt seiner 130 Jahre alten Marke "Aunt Jemima" einen neuen Anstrich. Das Maskottchen bisher: eine schwarze Frau als freundliche Dienerin. Einen Neustart soll es noch in diesem Jahr geben.

Uncle Ben’s: Auch der lächelnde Schwarze auf den Reispackungen von Uncle Ben’s wird weiterentwickelt, um rassistische Vorurteile zu bekämpfen, so der US-Konzern Mars. Wie genau, wurde aber noch nicht erklärt.

Unilever: Der Konsumgüterkonzern Unilever möchte seiner Gesichtscreme "Fair & Lovely" angesichts der weltweiten Rassismusdebatte einen anderen Namen geben. Die Hautpflegeprodukte sollten künftig ein vielfältigeres Schönheitsideal mit sämtlichen Hautfarben ansprechen, kündigte das Unternehmen an. Begriffe wie "weiß", "weiß machend" und "hell" hingegen suggerierten ein einheitliches Schönheitsideal, das das Unternehmen nicht für richtig halte. Deswegen sollten sie nicht mehr verwendet werden.

GoVolunteer: Das Startup aus Berlin möchte, dass alle Kinder sich und ihre Freunde malen können. Mit dem klassischen Hautfarbe-Buntstift konnten das bislang nur hellhäutige Kinder. Daher hat das Unternehmen ein Buntstifte-Set auf den Markt gebracht mit zwölf verschiedenen Farbtönen. "So bunt ist Deutschland", steht auf der Packung.

Nestlé: Der Konzern ändert rassistische Namen seiner Produkte: Die australischen Süßigkeiten "Red Skins" und "Chicos" sollen umbenannt werden. Die neuen Bezeichnungen seien jedoch noch nicht endgültig festgelegt, hieß es. (kla)

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Seine Frau, die er in der elften Klasse kennen gelernt hatte, schlug ihm vor, Jura zu studieren. Als Schicksal bezeichnet Younosi das heute. "Es hätte auch etwas anderes werden können."

Das ist ein Karrieretipp, den der Personalchef bis heute immer wieder gibt: "Es ist nicht wichtig, das durchzuziehen, was man mal geplant hat", sagt er, "sondern man muss offen sein für Gelegenheiten und sie beim Schopf packen." Im schlimmsten Fall lande man in einer Sackgasse. "Aber auch daraus lernt man etwas."

Tatsächlich tat sich Younosi an der Uni zunächst schwer. Er fand sich nicht zurecht, ging nicht zu den Vorlesungen, wie er einmal in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) erzählt hat. Drei Semester lang. Doch im vierten legte er los. Nach weiteren vier Semestern schloss er das Studium ab, machte ein Referendariat und begann als Arbeitsrechtler bei der Telekom. 2009 kam er schließlich zu SAP – und übernahm unter anderem das Thema Diversity. Vielfalt ist ein wichtiges Thema für ihn. Auch, aber nicht nur wegen seiner eigenen Geschichte.

Dabei geht es Younosi nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit. Das ist ihm wichtig zu betonen. Migration sei ein gleichwertiger Faktor, sagt er. Diverse Teams seien erfolgreicher – aber nur, wenn ihnen sowohl Frauen und Männer als auch Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen angehören.

Es gehe immer darum, für jede Aufgabe und jedes Team das beste Talent zu finden, meint der Personalchef – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Alter. Also um Chancengerechtigkeit. Und die ist – unabhängig von einem möglichen höheren Gewinn – für ihn ein Wert an sich.

Für Younosi bedeutet das, dass strukturelle Nachteile beseitigt werden müssen. "Wir wissen aus Studien, wie schwer es diejenigen gerade in der Schule haben, die nicht Thomas oder Michael heißen beziehungsweise einen Migrationshintergrund haben", sagt er. Gerade sie bräuchten Vorbilder. "Sie müssen sehen, was sie alles werden können."

Younosi will, dass man Menschen wenigstens eine Chance gibt. Auch wenn sie keinen schnurgeraden Lebenslauf haben. Alles andere tue ihm weh, sagt er.

Zumal er die Erfahrung gemacht hat, dass Menschen, die tiefe Einschnitte hatten in ihrem Leben – sei es ein Todesfall oder eine Krankheit – anders mit Herausforderungen und Stress umgehen. In schwierigen Situationen mussten sie sich etwas einfallen lassen. "Sie haben ein anderes Kreativitätspotenzial", meint er.

Bei ihm kriegen die Menschen eine Chance. Unabhängig von ihrem Hintergrund. "Manche sind hier richtig aufgeblüht", sagt der Personalchef.

Von sich selbst sagt Younosi, er habe im Leben mehr Glück als Verstand gehabt. Oft spricht er von Zufällen. So habe er nicht nur wegen seiner Kenntnisse Karriere gemacht, erzählte er in der FAZ – sondern weil ihn jemand mochte und ihm aufgrund seiner Geschichte zutraute, in einem Unternehmen zu vermitteln. Vielleicht, fügte er hinzu, habe es ihm auf seinem Weg geholfen, dass er auf sich gestellt war. Wer sich allein durchschlagen muss, der braucht auf Konventionen keine Rücksicht zu nehmen.

Noch heute spornen ihn Widerstände eher an. Er nimmt lieber die Chancen in den Blick als die Risiken. Und er hat den Mut, alte Gewohnheiten zu durchbrechen. Das kommt auch den 23.000 SAP-Mitarbeitern in Deutschland zugute. Von Brückenteilzeit profitierten sie, lange bevor sie Gesetz wurde. Stellen werden beim Softwarekonzern mit 75 Prozent ausgeschrieben. SAPler können sich Führungspositionen teilen. Damit die Mitarbeiter besser Balance halten können zwischen Arbeit und Privatleben, entwickelte Younosi ein Achtsamkeitsprogramm. Auch er selbst achtet darauf, nicht zu viel zu arbeiten, um genug Zeit für seine Frau und seinen zwölfjährigen Sohn zu haben. "Wir operieren nicht am offenen Herzen", sagt er. Gesundheit und die Familie, vor allem die Kinder, gehen immer vor.

Seine Geschichte, sein Leben in den ersten Jahren in Kabul und später in Deutschland, haben ihn deutlich geprägt.

Wenn man aus seiner Heimat flieht, sagt Younosi, bleibe ein Teil immer dort. "Man ist zerrissen." Obwohl er heute nichts mehr mit Afghanistan zu tun hat, liebt er dennoch die Musik und die Kultur. 2005 war er das erste und letzte Mal dort – und spürte die Entfremdung. "Es wäre schwierig für mich, mich dort wieder zurecht zu finden." Auf der anderen Seite hat er auch in Deutschland – wegen der fehlenden Wurzeln – kein wirkliches Heimatgefühl.

Was die Menschen aber im Wesentlichen prägt, ist nicht die Herkunft, meint er. Es ist die Sozialisation. Die Art, wie jemand aufwächst. Die Werte, die er vermittelt bekommt.

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