Viele erwarten, dass Kretschmann weiter machen will
Vermutlich Ende der Woche äußert sich Winfried Kretschmann zur Spitzenkandidatur 2021 – Dabei gäbe es viele Alternativen

Der Ambitionierte: Für Cem Özdemir (l.), den langjährigen Bundesparteichef aus Stuttgart, hat Winfried Kretschmann schon immer deutliche Sympathien erkennen lassen. Vielen gilt der 53-Jährige daher als würdiger "Erbe" des Ministerpräsidenten. Foto: Sebastian Gollnow
Von Sören S. Sgries
Heidelberg/Stuttgart. Gäbe es in Stuttgart ein Orakel, es würde derzeit vermutlich reichlich mit Opfergaben bedacht. Und müsste immer eine Frage beantworten: Will er noch einmal? Oder will er nicht erneut antreten, der Landesvater in seiner Residenz in Halbhöhenlage?
Winfried Kretschmanns Entscheidung über eine erneute Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl 2021 ist derzeit das heiße Thema der Landespolitik. Erwartet wird, dass der 71-Jährige noch im Laufe dieser Woche seinen Entschluss bekannt gibt.
Dabei geht die Mehrheit der Beobachter offenbar davon aus, dass der Grüne es noch einmal wissen will. Weil ihn die Herausforderungen reizen. Weil er sich in der Pflicht für das Land sieht. Weil noch kein Nachfolger aufgebaut wurde. Zuletzt wurde zudem die Ankündigung des früheren Bundesparteichefs Cem Özdemir, in zwei Wochen für den Fraktionsvorsitz der Grünen im Bundestag kandidieren zu wollen, als Indiz dafür gewertet, dass im Südwesten - zumindest kurzfristig - kein Kretschmann-Erbe benötigt werde.
Doch ist diese Deutung plausibel? Allein die Tatsache, dass Kretschmann sich Bedenkzeit ausbedungen hat, spricht nicht dafür, dass er den unbedingten Willen verspürt, im Amt zu bleiben. Und dass ein "natürlicher" Nachfolger fehlt: Ist das so verwunderlich in dieser Partei? Nur zur Erinnerung: Die Spitzenkandidaten für die letzten beiden Bundestagswahlen wurden aus einem größeren Kandidatenfeld per Urwahl bestimmt. Robert Habeck, heute schon als potenzieller grüner Kanzlerkandidat hoch gehandelt, unterlag damals Özdemir. Der Norddeutsche wurde erst hinterher Parteichef. Annalena Barbock, heute kongeniale Co-Vorsitzende, spielte 2017 noch überhaupt keine prominente Rolle.
Also: Für die Grünen wäre es sehr untypisch, dass klare Nachfolger aufgebaut werden und bereitstehen. Der fehlende Erbe, die fehlende Erbin muss also nicht das zentrale Argument für Kretschmanns Entscheidung sein. Zumal eine ganze Menge politischer Talente warten.
Der Ambitionierte
Dass Cem Özdemir, der "anatolische Schwabe", wie er sich selbst gern nennt, als heißester Anwärter auf das Spitzenkandidatenamt galt, hat vor allem einen Grund: Der 53-Jährige hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er etwas erreichen möchte. Der in Urach geborene Erzieher und Sozialpädagoge führte zehn Jahre lang die Bundespartei. Er hätte sich 2017 - als Spitzenkandidat - auch ein prominentes Amt in einer möglichen schwarz-gelb-grünen Bundesregierung gesichert. Vorzugsweise als Außenminister. Danach trat der Grünen-Politiker einige Zeit kürzer - verkündete aber jetzt, als Fraktionsvorsitzender wieder prominenter mitmischen zu wollen. Nimmt ihn das aus dem Rennen für Stuttgart? Wohl kaum. Derzeit, als Ausschussvorsitzender in Berlin, wäre er kein guter Spitzenkandidat für den Südwesten. Aber darauf zu hoffen, dass Kretschmann ihn in eine aussichtsreiche Position manövriert, würde auch nicht zu dem ehrgeizigen Schwaben passen - zumal ihm ein Posten im Landeskabinett, etwa als Integrations- oder Verkehrsminister, zu klein sein dürfte. Als Fraktionsvorsitzender im Bundestag hingegen könnte Özdemir sich eine mediale Präsenz bewahren, die ihm zunächst an der Grünen-Basis, dann in einem Landtagswahlkampf helfen könnte. Da ist noch alles offen.

Landesfinanzministerin Edith Sitzmann. Foto: dpa
Die Fleißigen
Keine drei Jahre ist es her, dass über einen möglichen Bundespräsidenten Winfried Kretschmann spekuliert wurde - und im Land über Nachfolger debattiert. "Erste unter Kretschmanns Zwerge" nannte die "Stuttgarter Zeitung" im November 2016 Finanzministerin Edith Sitzmann. Das Problem der heute 56-Jährigen schon damals: Sie hat - wie zuvor als Fraktionschefin - ein wichtiges Amt inne, das ihr viel Einfluss sichert. Aber ihre Außenwirkung hielt sich stets in Grenzen. Dass die Wahl-Freiburgerin zum Wahlkampf-Zugpferd werden könnte - schwer vorstellbar. Andererseits agiert sie geschickt, diszipliniert, wirkmächtig.

Landeswissenschaftsministerin Theresia Bauer. Foto: dpa
Ein wenig kokettiert damit, dass sie "zur Gruppe der Zwerge" gehöre, hatte damals Wissenschaftsministerin Theresia Bauer. Im ersten Kretschmann-Kabinett einer der eifrigen Stars, hat die 54-jährige Heidelbergerin inzwischen einigen Glanz eingebüßt. Wobei höheren Ambitionen wohl weniger der "Zulagen"-Untersuchungsausschuss im Wege steht. Da blieb bislang recht wenig hängen, gemessen an dem großen Auftrieb, den die Opposition betrieb. Schwierigkeiten dürften Bauer eher ein paar kleinere Entscheidungen bereiten, die ihr innerparteilich nachhängen. Zuallererst die - auf bestimmte Personengruppen begrenzte - Wiedereinführung von Studiengebühren. Dennoch: Ein Wahlduell 2021 zwischen der grünen Wissenschaftsministerin und der CDU-Kultusminister Susanne Eisenmann - es hätte Charme im "Bildungsland Baden-Württemberg".

Die grünen Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand. Foto: dpa
Die "jungen Wilden"
Gewissermaßen "qua Amt" höhere Ambitionen sollten die "jungen Wilden" an Fraktions- und Parteispitze haben. Sowohl Fraktionschef Andreas Schwarz (40) als auch die Landes-Parteichefs Sandra Detzer (39) und Oliver Hildenbrand (31) sind zumindest innerhalb der eigenen Partei bestens vernetzt. Von großer Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit ist ebenfalls wenig bekannt. Doch ob sie die notwendige Außenwirkung entfalten könnten?

Landtags-Fraktionschef Andreas Schwarz. Foto: dpa
Hildenbrand ließ sich einige Male in sicherheitspolitischen Fragen vernehmbar hören, wenn ihm in der grün-schwarzen Koalition die CDU-Interessen zu dominant zu werden schienen.
Auch Detzer schoß scharf gegen CDU-Minister - etwa gegen Agrarminister Peter Hauk oder Kultusministerin Susanne Eisenmann. Doch beide fühlen sich - wie auch Fraktionsdirigent Schwarz - dem gemeinsamen Regierungserfolg verpflichtet, dienen letztlich also vor allem. Richtig Biss hat (noch) keiner der drei verspüren lassen.
Bleibt noch das Alter: Ja, man kann auch mit 31 Jahren schon Bundeskanzler sein - zumindest in Österreich. Üblicherweise sind Regierungschefs, die das Volk will, aber doch ein paar Jahre älter. Detzer, Schwarz und Hildenbrand könnten also auch noch etwas die Füße still halten.

Tübingens OB Boris Palmer. Foto: dpa
Der Außenseiter
Einst hoch gehandelt und noch immer als hochintelligentes politisches Talent gelobt: der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Das Problem des 47-Jährigen: So erfolgreich er als Stadtchef ist, so überragend seine mediale Präsenz, so unmöglich hat er sich an der eigenen Parteibasis gemacht. Die Lust an der Provokation, gerne auch im "Man wird doch wohl noch sagen dürfen"-Stil, verübeln ihm zu viele Grüne, als dass er aktuell auf Karrieresprünge hoffen könnte. Und er machte auch nicht den Eindruck, als wolle und könne er sich ändern.

Freiburgs Ex-OB Dieter Salomon. Foto: dpa
Überraschendes Comeback?
Eigentlich ist Dieter Salomon, 16 Jahre lang Freiburger Stadtchef, seit seiner Wahlniederlage 2018 aus dem Rennen. Ursprünglich wollte er es sogar mit der Politik ganz sein lassen. Andererseits: Der Vorruhestand schmeckte dem 59-Jährigen offenbar nicht, seit Juni ist er Haupt-Geschäftsführer der IHK Südlicher Oberrhein. Will er noch mehr?
Und auch andere könnten für eine Überraschung gut sein. Was ist mit den Bundestagsabgeordneten Agnieszka Brugger und Franziska Brantner? Oder zieht es Alexander Bonde, den früheren Landwirtschaftsminister und derzeitigen Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) in Osnabrück, noch einmal zurück ins Ländle?
Viele Kandidaten - doch in Kretschmanns Schatten sieht man sie nicht.