Videoüberwachung in Mannheim

Das System ist keine moralische Instanz

Intelligente Software erkennt bestimmte Verhaltensmuster - Einzigartig in Europa

03.12.2018 UPDATE: 04.12.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 56 Sekunden

Polizeipräsident Thomas Köber (links) und Innenminister Thomas Strobl (rechts) im Führungs- und Lagezentrum des Mannheimer Polizeipräsidiums, wo die Bilder aus den Überwachungskameras einlaufen. Foto: Gerold

Von Olivia Kaiser

Mannheim. Einmal buzzern, und die Bilder der Überwachungskameras laufen ein. Publikumswirksam drücken Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU), Mannheims Polizeipräsident Thomas Köber sowie Mannheims Erster Bürgermeister und Sicherheitsdezernent Christian Specht (CDU) den roten Knopf und geben damit das Startsignal für die intelligente Videoüberwachung am Mannheimer Hauptbahnhof.

"Es ist ein besonderer Tag", betont Strobl salbungsvoll gleich mehrfach. Das klingt im ersten Moment etwas übertrieben. Doch bei genauerer Betrachtung ist die Videoüberwachung - so wie sie in Mannheim praktiziert werden soll - durchaus etwas Besonderes. Sie setzt auf die Mithilfe von Künstlicher Intelligenz und ist damit einzigartig in Europa.

Mannheim hat bereits Erfahrung in Sachen Videoüberwachung. Von 2001 bis 2007 wurden Kameras an öffentlichen Plätzen installiert, unter anderem in der Breiten Straße. Die Überwachung wurde gestartet, weil um die Jahrtausendwende ein signifikanten Anstieg in der Straßen- und Gewaltkriminalität zu verzeichnen war. Die Videoüberwachung war damals mit einem Interventionateam gekoppelt, das bei Bedarf schnell vor Ort war. "Mannheimer Weg" wurde dieses Konzept getauft. Das Vorgehen sei so effektiv gewesen, dass die Kriminalitätsrate um bis zu 70 Prozent gesunken sei, so Strobl. 2007 entfiel deshalb die rechtliche Grundlage für die weitere Videoüberwachung, die Kameras wurden abgeschaltet.

"Leider stieg die Kriminalität zwischen 2014 und 2016 erneut stark an, diesmal jedoch nicht nur in der Innenstadt, sondern auch im Stadtteil Neckarstadt", erklärt der Innenminister. Schnell stand der erneute Einsatz von Kameras im Raum. Denn, so betont Thomas Köber: "Es war das Zusammenspiel von Aufnahme, Beobachtung und Intervention, das den Erfolg in der Verbrechensbekämpfung gebracht hat." Deshalb sollte der "Mannheimer Weg" weiter beschritten werden, "allerdings mit den Werkzeugen der neuen Zeit", so der Polizeipräsident. Und diese Werkzeuge heißen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz - quasi der "Mannheimer Weg 2.0".

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Hintergrund

Die konventionelle Videoüberwachung von Mannheimer Hauptbahnhof, Paradeplatz, Breiter Straße und Altem Messplatz in der Neckarstadt läuft bereits seit 16. November. Am gestrigen Montag ging die intelligente Videoüberwachung am Hauptbahnhof an den Start. Noch in diesem Jahr

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Die konventionelle Videoüberwachung von Mannheimer Hauptbahnhof, Paradeplatz, Breiter Straße und Altem Messplatz in der Neckarstadt läuft bereits seit 16. November. Am gestrigen Montag ging die intelligente Videoüberwachung am Hauptbahnhof an den Start. Noch in diesem Jahr soll sie auch am Paradeplatz in Betrieb gehen. Die Breite Straße folgt im ersten Halbjahr 2019. Am Alten Messplatz ist der Start im Jahr 2020 geplant. Die Stadt Mannheim investiert 900.000 Euro in das System. Das Land beteiligt sich mit weiteren 700.000 Euro. Konventionelle und intelligente Videoüberwachung sollen parallel laufen. Ein weiterer möglicher Standort ist der Eingang zu den Planken am Wasserturm. Durch die Bauarbeiten der Plankensanierung haben die Straftaten in diesem Bereich jedoch stark abgenommen, so dass eine Videoüberwachung dort keine rechtliche Grundlage hat. Deshalb wird die Situation am Plankenkopf in einem Jahr noch einmal neu untersucht. (oka)

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Vor drei Jahren fanden die ersten Gespräche zwischen Strobl, Köber und Specht statt. Es entstand ein komplettes Sicherheitskonzept mit mehreren Bausteinen. Einer davon ist der Sicherheitscontainer am Paradeplatz. Die Videoüberwachung fügt sich in das Konzept ein. Die Idee der Planer: Eine intelligente Software, die weniger Personen beobachtet, als viel mehr Verhaltensmuster entdeckt, die auf die Begehung einer Straftat hinweisen, oder darauf, dass jemand Opfer einer Straftat geworden ist. "Beispielsweise Schlagen, Treten oder Hinfallen", verdeutlicht Strobl. Mit dem Fraunhofer Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) in Karlsruhe wurde ein Partner gefunden, der solch eine Software entwickeln kann. Es basiert auf Algorhythmen, die bestimmte Bewegungen entdecken.

Ein Beispiel: Die Kamera nimmt zwei Männer auf, die auf dem Bahnhofsvorplatz aufeinander zu laufen, ihre Körper sind mit grünen Rechtecken markiert. Dann tritt der eine dem anderen vor die Brust und rennt weg. Treten und Rennen sind Bewegungen, die das System alarmieren. Der Mann ist jetzt mit einem roten Rechteck markiert. Das Opfer fällt zu Boden, deshalb ist auch sein Körper mit einem roten Rechteck markiert. Die Bilder der Überwachungskameras laufen auf den Monitoren im Führungs- und Lagezentrum des Polizeipräsidiums ein. Vor den Bildschirmen sitzen Beamte, die durch die roten Rechtecke aufmerksam werden. Sie bewerten die Situation und schicken bei Bedarf das Interventionsteam los.

"Die Software kann zwischen beweglichen Objekten unterscheiden. Sie weiß, ob es sich um einen Menschen handelt oder eine vorbeifahrende Straßenbahn", erklärt Polizeidirektor Klaus Pietsch, der das Projekt "Intelligente Videoüberwachung" vonseiten der Polizei aus leitet. Ebenso könne sie verschiedene Bewegungen erkennen und zwischen bedenklich und unbedenklich unterscheiden. "Es handelt sich um eine Software, die ständig dazu lernt", fügt Markus Müller vom Fraunhofer Institut hinzu.

"Das System erkennt nur die Bewegungen, es ist keine moralische Instanz", verdeutlicht Thomas Köber. "Bei diesem System entscheidet immer der Mensch, nie die Maschine." Momentan sind vier Beamte für den Dienst an den Bildschirmen eingeteilt, zwei weitere sollen das Team bald verstärken. Gearbeitet wird im Schichtdienst. Bei den eingesetzten Kräften handle es sich um Polizeibeamte aus dem Innendienst, erläutert Pietsch.

Die Daten werden 72 Stunden gespeichert und dann unwiederbringlich gelöscht. Die Beamten am Bildschirm können nicht selbstständig löschen. Ihre Vorgesetzten entscheiden, ob strafrechtlich relevante Sequenzen gespeichert werden, so dass sie gegebenenfalls bei einer Gerichtsverhandlung als Beweis dienen können. Das System an sich ist komplett autark. "Es gibt keinerlei Schnittstelle zum Internet. Es kann nicht gehackt werden", betont Thomas Köber. "Es wurden sogar eigene Glasfaserkabel verlegt."

Unter Laborbedingungen funktioniere die intelligente Bildauswertung, bilanziert Markus Müller. Jetzt wird es seit Montag am Hauptbahnhof in der Praxis angewandt. In den kommenden fünf Jahren sollen die Algorhythmen kontinuierlich dazu lernen. "Das hat nichts mit Gesichtserkennung zu tun", stellt Christian Specht klar. "Es geht um Verhaltensmuster." Laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen sprechen sich 85 Prozent der Mannheimer Bürger für die Videoüberwachung aus - zur Freude von Christian Specht: "Das ist eine gewaltige Zustimmungsrate."

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