Heilbronn

Vier Flüchtlinge niedergestochen - 70-Jähriger ohne Erinnerung (Update)

War er von Fremdenhass getrieben oder hatte er betrunken einen Filmriss? Nach einer brutalen Messerattacke auf Flüchtlinge steht in Heilbronn ein 70-Jähriger vor Gericht.

16.10.2018 UPDATE: 16.10.2018 12:14 Uhr 2 Minuten, 8 Sekunden
Ein Angeklagter sitzt in einem Verhandlungssaal im Landgericht neben seiner Anwältin Anke Stiefel-Bechdolf. Acht Monate nach einer Messerattacke auf vier Flüchtlinge in Heilbronn steht ein 70 Jahre alter Deutscher wegen Mordversuchs vor Gericht. Foto: Roland Böhme/dpa

Von Roland Böhm 

Heilbronn. "Ich möchte Entschuldigung sagen." Als sein erstes Opfer am Dienstag den Gerichtssaal in Heilbronn verlässt, steht der Angeklagte auf, dreht sich zu dem 26 Jahre alten Iraker um und richtet das Wort direkt an ihn. Doch der seit einer Messerattacke des Seniors berufsunfähige Bäcker schüttelt nur den Kopf: "Ich nehme das nicht an. Er hat mein Leben zerstört." Aus Fremdenhass? Diese Frage versucht das Landgericht Heilbronn seit Dienstag und voraussichtlich bis Ende Oktober zu klären. Er sei kein Rechtsextremist, sagt der 70 Jahre alte Angeklagte. Am Tattag sei er "schrecklich besoffen" gewesen, könne sich an die Tat nicht erinnern.

Acht Monate ist die brutale Messerattacke des Mannes auf vier Flüchtlinge mitten in Heilbronn her. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Rentner vor, am 17. Februar auf dem Marktplatz mit einem Küchenmesser hinterrücks und unvermittelt auf vier junge Männer eingestochen haben - weil er sie äußerlich für Asylbewerber hielt. Der Polizei sagte der in Kasachstan geborene Mann danach, er habe "ein Zeichen gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik" setzen wollen. Laut Staatsanwaltschaft nahm er den möglichen Tod seiner Opfer jeweils billigend in Kauf.

Ein damals 17 Jahre alter Afghane wurde schwer verletzt, der Iraker und ein seinerzeit 19-jähriger Syrer leicht. Der vierte Attackierte konnte unverletzt fliehen. Er sei betrunken gewesen, heißt es in Schreiben des 70-Jährigen an die Opfer. Den Dokumenten legte er 2000 Euro bei, berichtet Verteidigerin Anke Stiefel-Bechdolf.

Der 70-Jährige will einen Filmriss gehabt haben. Er habe an dem Tag mit seiner Familie gefeiert und wohl auch den einen oder anderen Schnaps getrunken, was er sonst selten mache, berichtet Gutachter Kristian-Olav Rosenau aus Böblingen von Gesprächen mit dem Angeklagten. Die Erinnerung an die Tat fehle ihm komplett. Er habe irgendetwas in den Keller gebracht, danach sei alles weg - bis er einen Schlag bekam und den Schmerz enger Handschellen spürte. Davor: 20 Minuten Filmriss, in denen er auf den Platz ging und um sich stach. Geplant, gezielt, ist sich die Staatsanwaltschaft sicher.

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Der 70-Jährige wird 1947 geboren, hat aber familiäre Wurzeln in Württemberg. In seiner Heimat macht er Ausbildungen zum Schlosser, Radio-Elektriker und Fotografen. In den 70er Jahren kommt der Wunsch auf, nach Deutschland zu gehen, 1991 ist es soweit. "Es war mein Traum", sagt er am Dienstag in gebrochenem Deutsch. Er fühle sich schon immer als Deutscher. In Heilbronn lebt er mit Frau und einer erwachsenen Tochter, arbeitet lange Zeit als Hausmeister.

"Ich bin kein Fremdenhasser, kein Rechtsextremist", betont der 70-Jährige in den Entschuldigungsschreiben an die Opfer. Sie werden beim Prozessauftakt verlesen. Auch nach der Aussage des ersten Opfers steht er auf, sagt, dass er sich entschuldigen wolle.

Der Iraker kommt vor drei Jahren nach Deutschland. Am Tattag wartet der Bäcker nach Feierabend vor der Kilianskirche auf den Bus, als er plötzlich von hinten angegriffen wird. Er versucht, den Arm hochzureißen, doch das Messer durchbohrt seinen Unterarm. Schwer verletzt wird er ins Krankenhaus gebracht, notoperiert. Bis heute kann er nicht arbeiten. "Als Bäcker brauch' ich beide Hände." Er kann nicht schlafen, hat Alpträume, ist depressiv. "Ich wollte eigentlich Deutschland nicht auf der Tasche liegen und mein eigenes Geld verdienen", zitiert der Vorsitzende Richter Roland Kleinschroth eine Aussage.

Rechtsextremer Fremdenhasser oder Betrunkener mit Filmriss? Das Landgericht wird versuchen, diese Frage bis vermutlich 31. Oktober zu klären. "Es gibt den Spruch "Kinder und Betrunkene sagen das, was sie denken"", sagt Kleinschroth. Fünf weitere Verhandlungstage sind angesetzt. 22 Zeugen sollen gehört werden.

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