Gegenbewegung in der Landwirtschaft

Solidarische Landwirtschaft gegen Turboproduktion

"Solawi" setzt auf naturverträgliche Anbaumethoden und kurze Vertriebswege

19.07.2018 UPDATE: 20.07.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 44 Sekunden

Kirsten Noe ist Mitglied der Solidarischen Landwirtschaft, hier an der Abholstelle in Dallau. Foto: Brunhild Wössner

Von Brunhild Wössner

Neckar-Odenwald-Kreis. Chemikalien auf Feldern, in Reb- und Obstanlagen, die so giftig sind, dass Kinder nach der Ausbringung in der Nähe nicht mehr spielen dürfen. Warum tut man das? Es dient der Lebensmittelproduktion, die längst schon nichts mehr mit der Bauernidylle in Kinderbüchern zu tun hat.

Immer häufiger werden Lebensmittel wie Industrieware produziert. Bei der Produktion von Nahrungsmitteln auf Feldern und in den Ställen reden Handelsketten und Discounter sowie Saat- und Pflanzenschutzkonzerne, also Chemieriesen wie Bayer, mit.

Schließlich sind auch Insektensterben und der Rückgang der Artenvielfalt sowie das Absinken des Grundwasserspiegels Folgen einer "Geiz ist geil"-Mentalität" beim Verbraucher und in Folge dessen der Turboproduktion in der Landwirtschaft.

Nicht nur, dass dies massiv die Umwelt schädigt, auf diese Weise produzierte Lebensmittel schmecken auch dementsprechend - nämlich mitunter nach nichts. Dazu haben sie weniger Nährstoffe und Vitamine.

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Diese Mängelliste war für einige Menschen der Anstoß, eine Gegenbewegung unter der Bezeichnung "Solidarische Landwirtschaft" (Solawi) zu gründen.

Im Neckar-Odenwald-Kreis gibt es sie schon seit 2013, damit wirkt sie hier im sechsten Jahr. Ziel ist es, vom Discounterangebot und dessen Produktionsmethoden wegzukommen. In dieser Produktions- und Verbrauchergemeinschaft sollen hochwertige Lebensmittel produziert und zu Preisen verkauft werden, die den erhöhten Aufwand widerspiegeln - auch hier hat eben Qualität ihren Preis.

Für Stefan Klein, Softwareentwickler aus Eberbach und Mitglied im Vorstand der Solawi, ist es die "zweitbeste Möglichkeit" an regional, ökologisch produziertes Gemüse zu kommen. Die beste wäre der eigene Gemüsegarten. Er ist jetzt schon im vierten Jahr dabei.

Mit seinem Beitrag von 85 Euro im Monat für eine Ernteeinheit, die ein bis zwei Personen versorgt, kann er sich im Sommer auch mal Paprika oder Pak Choi, Radicchio oder Melone, sogar Auberginen und Tomaten in der Abholstelle in den Korb legen. Er stellt fest: "Die Tomaten sind vom Geschmack her total intensiv, weil sie bis zum Schluss am Strauch hängen dürfen" und nicht zwecks Transport schon unreif geerntet werden. Ein weiterer positiver Nebeneffekt ist bei dieser Art der landwirtschaftlichen Produktion natürlich auch die positive CO2-Bilanz. Das Gemüse muss nicht durch halb Europa gekarrt werden.

Denn für die im Raum Mosbach agierende Solawi produziert Michael Scheurig, Landwirt in Robern, im Odenwald. Scheurig ist Biologe und hat sich im Rahmen von EU-Projekten mit der Risikoanalyse von Pestizid-Anwendungen befasst. Was er beobachtet hat, war für ihn "Krieg gegen die Natur": Hellblaue Brokkoli-Felder in Monokulturen bis zum Horizont und bei Bodenuntersuchungen in der Po-Ebene ließ sich kein einziger Regenwurm finden. Nach Untersuchungen auf Chemikalien hatte der Biologe für mehrere Tage seinen Geruchssinn eingebüßt.

Angesichts solcher Erfahrungen reifte in dem Biologen die Überzeugung, dass das auch anders gehen müsse. Er gründete vor zehn Jahren ein eigenes Hofprojekt und bewirtschaftet teils eigene, teils gepachtete Flächen. Scheurig suchte damals nach einer Möglichkeit, einen solidarischen Hof zu gründen und stieß dabei auf eine Gruppe im Heilbronner Raum, die einen Partner für eine Solidarische Landwirtschaft suchte.

Inzwischen gibt es ca. 100 Solidarische Landwirtschaften in Deutschland. Manchmal kooperieren - wie im Raum Heidelberg - mehrere Höfe, während sie sich andernorts gleich zu einer Genossenschaft zusammenschließen. Ziel ist es, dem Landwirt eine verlässliche Kalkulationsgrundlage zu bieten. Die Vermarktung der Erzeugnisse vollzieht sich in einem anonymen Bieterverfahren. Zuerst gibt der Landwirt seine Kostenkalkulation bekannt, danach reichen Mitglieder Gebote ein, die insgesamt zur Kostendeckung führen müssen.

Scheurig bezahlt aus den Erlösen drei Mitarbeiter und erwirtschaftet für sich selbst einen kleinen Überschuss. Inzwischen gibt er rund 70 Prozent seiner Produktion an die Mitglieder der Solawi ab und beliefert unter anderem Abholstellen in Dallau und Eberbach. Den Rest verkauft er in seinem Hofladen bzw. an die Gastronomie.

Die Solawi im Neckar-Odenwald-Kreis hat aktuell 92 Mitglieder - vom Auszubildenden bis zum Rentner sind alle Altersklassen vertreten. Angefangen hatte man einmal mit 20, rund 110 Mitglieder könnte man versorgen. Lieferengpässe gab es in dieser Zeit so gut wie nicht. Einmal wurde die Kürbis- und Zucchini-Ernte von einem Starkregen buchstäblich weggeschwemmt. Ausfälle können aber meistens von anderen Gemüsesorten aufgefangen werden.

Aber auch in Kontakt selbst kann man mit den Erzeugnissen kommen: Man kann - muss aber natürlich nicht - alle 14 Tage bei einem Arbeitseinsatz mithelfen. Denn ökologisch zu produzieren, bedeutet immer noch, viel Handarbeit einzusetzen. Auch ein Hoffest wird zweimal im Jahr veranstaltet.

Info: Wer mehr wissen möchte, kann sich an info@solawi-erleben.de oder telefonisch an (0 62 71) 9 46 69 36 wenden.

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