Kernbestand der historischen "Bibliotheca Palatina" virtuell wiedervereint
Rückkehr des Heidelberger Schatzes: Großes Digitalisierungsprojekt der Universitätsbibliothek

Zu den Kostbarkeiten der Bibliotheca Palatina zählen das "Falkenbuch" Kaiser Friedrichs II. Foto: UB
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Als der "größte Schatz des gebildeten Deutschlands" und als "Mutter aller Bibliotheken" galt die Heidelberger Bibliotheca Palatina, bevor sie in der Frühphase des Dreißigjährigen Kriegs als Kriegsbeute nach Rom abtransportiert wurde. Jetzt ist der deutschsprachige und lateinische Kernbestand der alten pfälzischen Landesbibliothek durch große Digitalisierungsprojekte der Universitätsbibliothek virtuell wiedervereint und somit nach Heidelberg zurückgekehrt. Und dieser herausragende Erfolg, der wesentlich durch die Förderung der Manfred Lautenschläger-Stiftung ermöglicht wurde, war nun Gegenstand eines Festaktes der Ruperto Carola in der Alten Aula, bei dem Freude, Stolz und Dankbarkeit hohe Wellen schlugen.
Welchen Stellenwert die virtuelle Bibliotheca Palatina nun für den Standort Heidelberg hat, hob der Direktor der Universitätsbibliothek Veit Probst mit einigen Kennzahlen hervor. So registrierten die Server der UB im Jahr 2017 rund 315.000 Zugriffe aus 172 Ländern auf die Bände der Palatina, dabei wurden insgesamt 2,2 Millionen Seiten aufgerufen.
Und Rektor Bernhard Eitel unterstrich mit Nachdruck: "In der Mitte Euro-pas geben wir den Menschen ein Stück ihrer Geschichte zurück, ein wahres Stück europäischer Identität." Der allseitige Dank galt Förderer Manfred Lautenschläger, vor allem Rektor Eitel würdigte die so langjährige wie wertvolle Finanzierung durch seine Stiftung.
UB-Direktor Probst ließ die Historie der Bibliotheca Palatina Revue passieren. Im 16. und 17. Jahrhundert war sie ein Mythos: Ihre Bücher repräsentierten im gelehrten Europa das über Jahrtausende gesammelte Wissen der Menschheit. Die Wurzeln des Bestandes reichen bis in die pfalzgräfliche Bibliothek um die Mitte des 14. Jahrhunderts zurück. Pfalzgraf Ludwig III. ließ sie im 15. Jahrhundert auf den Emporen der fertiggestellten Heiliggeistkirche aufstellen.
Auch interessant
Entscheidende Weichenstellungen für die Bibliotheca Palatina nahm Pfalzgraf Ottheinrich im 16. Jahrhundert vor. Er überführte fast alle pfalzgräflichen Büchersammlungen vom Schloss in die Heiliggeistkirche und bewirkte die Übernahme der Klosterbibliothek Lorsch. Zudem sorgte er für einen jährlichen Erwerbungsetat: Fortan kam es zu systematischen Ankäufen auf den Frankfurter Buchmessen. Ein weiterer Zuwachs erfolgte durch den zum Protestantismus konvertierten Augsburger Ulrich Fugger, der nach Heidelberg übersiedelte.
Aber das Abenteuer Pfalzgraf Friedrichs V. im Dreißigjährigen Krieg führte dann Fürstenhaus, Stadt, Universität und Bibliothek in die Katastrophe. Nachdem die katholischen Truppen im September 1622 das protestantische Heidelberg erobert hatten, reklamierte Papst Gregor XV. die Palatina als Kriegsbeute. Ne-ben dem wissenschaftlichen Wert erblickte er in ihr auch eine "geistige Rüstkammer für die Reformation". Der päpstliche Abgesandte Leone Allacci begleitete den sechs Monate dauernden Transport der Palatina nach Rom, wo sie 1623 in die Vatikanische Bibliothek gelangte.
Für die nächsten 200 Jahre war die Sammlung ausländischer Nutzung entzogen. Aber ihr Ruhm verblasste nicht. Denn bei der Neuordnung Europas am Ende der napoleonischen Ära spielte die Palatina auf dem Wiener Kongress wieder eine Rolle. Und der Vatikan war bereit, zumindest die 847 deutschsprachigen Handschriften nach Heidelberg zurückzugeben, die Anfang August 1816 mit Begeisterung in Empfang genommen wurden.
Wie lebendig der Mythos der Palatina selbst noch im späten 20. Jahrhundert war, erwies sich im Sommer 1986, als die wichtigsten und schönsten Bücher der Palatina zur 600-Jahr-Feier der Ruperto Carola auf den Emporen der Heiliggeistkirche gezeigt werden konnten. Diese Rückkehr auf Zeit erregte bundesweite Aufmerksamkeit: Die Schau war mit über 275.000 Besuchern die erfolgreichste Bibliotheksausstellung aller Zeiten - und ein Vorläufer der Digitalisierungsvorhaben. Dabei stand die Frage im Zentrum, wie mehrere Tausend mittelalterliche Codices in zwei Ländern mit weit über einer Million Buchseiten und einem Gesamtwert von über einer Milliarde Euro digitalisiert werden können.
Ab dem Jahr 2002 baute die UB eine Digitalisierungswerkstatt auf. Und 2006 begann in Kooperation mit der Lautenschläger-Stiftung die Digitalisierung aller 848 deutschsprachigen Heidelberger Handschriften. Ab 2010 folgte dann die virtuelle Rekonstruktion der Bibliothek des Klosters Lorsch, das ein Zentrum des Karolingerreichs war. Durch die Aufhebung des Klosters in der Reformationszeit waren dann die 331 überlebenden Lorscher Codices auf 73 Bibliotheken in 13 Ländern verteilt. 130 dieser Handschriften befanden sich im Vatikan, der so in Kontakt mit den Heidelberger Projekten kam. Die UB konnte dort ein Digitalisierungsstudio einrichten.
Schließlich wurde eine weit umfassendere Kooperation möglich. Die UB baute dafür die römische Infrastruktur aus, und der Vatikan stellte ein zweites Digitalisierungsstudio bereit. Nun sind die 848 deutschsprachigen mit den 2030 lateinischen Handschriften wieder zusammengeführt, sodass der Kernbestand der mittelalterlichen Palatina-Handschriften online zugänglich ist. Probst würdigte das Projekt als "ein großartiges, identitätsstiftendes Heidelberger Gemeinschaftsunternehmen".
Allerdings harren im Vatikan derzeit weiterhin mehr als tausend Handschriften aus der historischen Bibliotheca Palatina der digitalen Erschließung: Dabei handelt es sich um 402 griechische, 430 hebräische und vermutlich einige Hundert noch zu identifizierende orientalische Handschriften.
Zum Abschluss der jetzigen Festveranstaltung, bei der Christopher Young (Universität Cambridge) den Festvortrag zum Thema "Die Kaiserchronik digital. Alte Fragen und neue Technologien" hielt, äußerte Mäzen Manfred Lautenschläger erneut seine tiefe Verbundenheit mit der Universität Heidelberg seit Studentenjahren.
Von dem, was er von der Ruperto Carola und der Gesellschaft erhalten habe, gebe er gern etwas zurück. Lautenschläger: "Als Stifter will ich Anstifter sein." Nach seinen Worten können Stiftungen die Gesellschaft dort verändern und weiterbringen, wo andere Akteure es nicht vermögen. So habe nach seiner Unterstützung auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Digitalisierungsvorhaben gefördert.
Schließlich appellierte Lautenschläger an vermögende Privatpersonen, eben-falls tätig zu werden. Und an die Politik ging der Appell, für eine stärkere "Gemeinwohlförderungskultur" zu sorgen. Im dramatischen Umfeld unserer Gegenwart sollten sich alle Beteiligten ihrer Verantwortung für den Erhalt unserer "wunderbaren Zeiten" bewusst sein.



