Revolution der Geistesgeschichte gesichert
Die Digitalisierung der Klosterbibliothek Lorsch wurde in der Universitätsbibliothek Heidelberg abgeschlossen - Kooperation mit Rom

Der Evangelist Johannes mit seinem Evangelistensymbol, dem Adler. Er schickt sich an, ein Buch zu schreiben. Die Abbildung aus dem "Lorscher Evangeliar" ist noch vor 814 an der Hofschule Karls des Großen entstanden. Dieses befindet sich nun zum Teil im Vatikan. Foto: UB
Von Heiko P. Wacker
Im 8. Jahrhundert ereignete sich in Lorsch eine Revolution der europäischen Geistesgeschichte - gelang es doch dem Benediktinerkloster binnen weniger Jahrzehnte, zentrale Texte und Autoren der Antike zu sammeln und für die Klosterbibliothek abzuschreiben. "Es war ein unglaublicher Wissenstransfer, der in Lorsch stattfand", betont Veit Probst. "Dieser hatte nicht nur für die karolingische, sondern auch für die gesamte Kultur des Mittelalters, und bis weit ins 16. Jahrhundert, enorme Bedeutung."
Der Direktor der Universitätsbibliothek Heidelberg kommt nicht umhin, in Superlativen zu sprechen, geht es um die Lorscher "Bibliotheca Laureshamensis", deren Digitalisierung jüngst in seinem Hause vollendet wurde. "Und dabei war die Bibliothek nur der Anfang", versichert er. "Inzwischen haben wir auch den Lorscher Codex, das Urkundenbuch des Klosters, digital erschlossen und damit in gewisser Weise die wirtschaftliche Basis des Klosters."
Will man dies verstehen, muss man in die Zeit der Karolinger eintauchen, die sich mit dem 764 gegründeten Kloster Lorsch ein Denkmal setzten, von dem heute außer der Torhalle nur wenig Bausubstanz erhalten blieb. Um so erstaunlicher ist, dass Schriftzeugnisse vorhanden sind, mit denen sich sowohl die Besitzungen als auch die Handschriftensammlungen des Klosters rekonstruieren lassen, das rasch Besitz vom Bodensee bis in die Niederlande zu sammeln vermochte. Zumeist waren es Schenkungen, die die Gläubigen dem heiligen Nazarius - seine Gebeine kamen bereits 765 als päpstliches Geschenk nach Lorsch - und damit dem Kloster zukommen ließen.
Die Schenkung eines Schriesheimers vom 12. April 766 ist eine solche: "Ich, Hairirad, mache auf göttliche Eingebung, zum Heile meiner Seele und um der Wiedervergeltung in der Ewigkeit willen durch diese Schenkungsurkunde und Willenserklärung unter dem heutigen Tag an den heiligen Märtyrer Gottes Nazarius eine Vergabung. (…) Ich übergebe und übertrage in pago lobodonensi (im Ladengau), und zwar im Dorfe Scrizzesheim (Schriesheim), einen Weinberg (...)."
Solche Gaben ließen den Reichtum des Klosters explosionsartig anwachsen, was sich auch an der reichspolitischen Bedeutung ablesen lässt: "Der Abt war ein Reichsfürst - und kein kleiner. Wenn es zum Reichstag ging, dann hatte er 300 Reiter im Gefolge. Im Gegenzug war Lorsch aber auch in der Lage, Kaiser Karl dem Großen und seinem Gefolge als Pfalz zu dienen und alle mehrere Wochen zu ernähren." Zugleich betrieb man ein schaffensfreudiges Skriptorium: "Tag für Tag wurden hier die Pergamentseiten gefüllt - für eine größere Handschrift benötigte man die Haut einer kompletten Schafherde -, es wurden antike Autoren abgeschrieben und gesammelt, die Kirchenväter und natürlich die Bibel. Schließlich hatten die Mönche gut 500 Werke zusammengetragen: das damalige Wissen der Welt sozusagen."
Lorsch sammelte das Wissen nämlich nicht nur blind, sondern systematisch, die rund 20 Mönche des Skriptoriums hatten dementsprechend gut zu tun.
Die Zeiten überdauert haben gut 300 mittelalterliche Handschriften, die jedoch heute auf 73 Bibliotheken in 14 Ländern verstreut sind. Es sind manchmal nur Fragmente, wie etwa in der Zwickauer Ratsschulbibliothek, wo sich lediglich wenige Blätter einer Handschrift des 9. Jahrhunderts erhalten haben. Andernorts gibt es größere Bestände - wie in Rom: In der "Biblioteca Vaticana" befindet sich heute gut die Hälfte der erhaltenen Handschriften aus Lorsch. Die Gründe hierfür sind eng mit der kurpfälzischen Geschichte verwoben: Mitte des 16. Jahrhunderts verleibte Kurfürst Ottheinrich die Lorscher Bestände der legendären Heidelberger "Bibliotheca Palatina" ein. Sie gilt bis heute als eine der wichtigsten deutschen Renaissancebibliotheken, und wurde zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges in die Ewige Stadt transportiert.
Ein Verlust für Heidelberg - natürlich - und entsprechend beklagt. Für die Schriften indes war es ein Glück: "Wäre die Bibliothek in Heidelberg verblieben, wäre sie wohl im Pfälzischen Erbfolgekrieg zerstört worden", meint Veit Probst. "Trotzdem war es nicht eben einfach, den Vatikan davon zu überzeugen, die Digitalisierung und damit die freie Nutzung der Schriften zu erlauben." Er erinnert sich noch gut an die notwendige Überzeugungsarbeit, die sich über ein volles Jahr hinzog, bevor eine "Digitalisierungs-Außenstelle" der UB Heidelberg in Rom nahe des Petersplatzes eingerichtet werden konnte.
"Heute vereint unsere virtuelle Bibliothek alle noch existenten Lorscher Handschriften in Form von digitalen Reproduktionen", erklärt der UB-Direktor. "Außerdem sind alle Codices wissenschaftlich beschrieben und über eine Datenbank erschlossen. Damit hat nun jeder einen systematischen Zugriff auf das Lorscher Handschriftenerbe. Und zwar weltweit, ohne Einschränkung. Und das gilt auch für den Lorscher Kodex, den ,Codex Laureshamensis‘, der Ende des 12. Jahrhunderts entstand."
Mehr als 3800 Urkundenabschriften fassen den einstigen Besitz des Klosters zusammen, mehr als 1000 Ortschaften vor allem in Süd- und Westdeutschland werden hier erstmals urkundlich erwähnt. "Das macht den Kodex so wichtig. Denn die Originalurkunden, in denen es ja zumeist um eine Schenkung oder einen Kauf geht, haben sich in keinem einzigen Fall erhalten. Deshalb ist er für die Orts- und Heimatgeschichte Südwestdeutschlands eine einzigartige Quelle."
Eine Quelle übrigens, aus der heute dank Internet jeder Gemeinderat, jeder Bürger schöpfen kann: Über eine Liste sind alle zu einem Ort gehörigen Urkunden zugänglich. Und - sie sind beschrieben, erschlossen, datiert und übersetzt, weshalb man beispielsweise in Schriesheim weiß, dass es einmal einen Hairirad gab, der hier vor gut 1251 Jahren einen Weinberg hatte, den er einem just gegründeten Kloster schenkte.
Aus der ursprünglichen Kooperation zur Rekonstruktion der Lorscher Bibliothek hat sich eine noch viel bedeutsamere Zusammenarbeit ergeben. Die Vatikanische Bibliothek und die UB Heidelberg arbeiten seit 2012 mit großzügiger Förderung der Manfred Lautenschläger Stiftung an der Digitalisierung aller Codices der ehemaligen Bibliotheca Palatina, die in absehbarer Zeit jedem verfügbar sein werden. Ein wissenschaftliches Unternehmen von Weltrang - und die greifbare Demokratisierung von Wissen.



