Wie die Hausmeister-Familie ihre Spielräume nutzte
Dorothee Roos vom Verein "KZ-Gedenkstätte Neckarelz" hat einen Aufsatz über die Erlebnisse der Hausmeisterfamilie Horber verfasst

Dorothee Roos bei den Ausstellungsstücken, die Ilse Horber der KZ-Gedenkstätte in Neckarelz zur Verfügung gestellt hat. An den vier Sonntagen im November ist die Gedenkstätte noch geöffnet. Foto: Stephanie Kern
Von Stephanie Kern
Neckarelz. Dorothee Roos kennt die Geschichte inzwischen schon sehr lange. Wer aber das erste Mal von der Neckarelzer Familie Horber hört, der mag kaum glauben, was diese Familie zur Zeit der Diktatur der Nationalsozialisten erlebt und erfahren hat. Am 15. März 1944 kamen die ersten 500 Männer nach Neckarelz, die Grundschule verwandelte sich in ein KZ, die Kinder wurden im Kindergarten unterrichtet. Doch ganz leer war die Schule nicht: In dem Gebäude wohnte die Hausmeisterfamilie Horber, bestehend aus Otmar und Eva, ihrer Tochter Ilse und deren Sohn Hans-Peter. Ilse Horber (später Pusch) brach nach vielen Jahren ihr Schweigen und wurde so für den Verein KZ-Gedenkstätte Neckarelz zu einer ganz besonderen Zeitzeugin. Nun hat Dorothee Roos für die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg einen Aufsatz über die Familie verfasst.
Im Jahr 1994 gab es eine erste Annäherung zwischen dem Verein und Ilse Pusch. Bei einer Gedenkfeier am 12. August aus Anlass des 50. Jahrestags der Hinrichtung eines Häftlings sagte Ilse Pusch zu Walter Posert (Sohn eines ehemaligen Häftlings): "Das hätte Ihr Vater aber nicht gewollt." Dorothee Roos hörte diesen Satz. "Daraus hat sich natürlich ein Gespräch entwickelt. Und darin hat sie sich geoutet als jemand, der das Leben im Lager hautnah mitbekommen hat", erzählt Dorothee Roos. Entstanden sei dann ein immer enger werdender Kontakt. Einer, der für den Verein und die KZ-Gedenkstätte in Neckarelz "unschätzbar wertvoll" werden sollte.
Von der Zeitzeugin gab es nicht nur besondere Einblicke, sondern auch besondere Ausstellungsstücke für die Gedenkstätte. Dokumente etwa, aber auch eine Balalaika, die russische Häftlinge für Ilse Puschs zweijährigen Sohn Hans-Peter zu Weihnachten angefertigt hatten. Oder Karten mit besten "Grüßen für das Neue Jahr". All diese Erinnerungen finden sich in der KZ-Gedenkstätte in Neckarelz und erzählen auf eine fast unparteiische Art, so Dorothee Roos, vom Leben im KZ in Neckarelz.
"Die Horbers waren keine politisch engagierten Menschen, keine Nazigegner oder gar Widerstandskämpfer. Manches am Naziregime schätzten sie durchaus. Doch mit der Errichtung des Konzentrationslagers in der Schule sahen die Horbers die andere Seite des NS-Regimes, die sie bisher nicht wahrgenommen hatten. Sie fanden, dass man mit Menschen nicht so umgehen dürfe und versuchten innerhalb ihres Umfeldes zu helfen, wo es möglich war", schreibt Dorothee Roos in ihrem Aufsatz. Möglich war diese Hilfe im Kleinen. Etwa indem sie die Treppe zu den Männern hinunterliefen wenn sie Schreie hörten. Weil sie bemerkt hatten, dass prügelnde Wachleute dann mit ihren Misshandlungen aufhörten. Gelegentlich stifteten sie den zweijährigen Hans-Peter an, die Häftlinge mit Äpfeln zu bewerfen. Was aggressiv aussah, war für die Häftlinge Hilfe, denn Äpfel waren bei ihnen sehr begehrt.
In der Nacht vom 29. auf den 30. Mai 1945 begann die Evakuierung der Neckarlager. Otmar Horber, der Vater von Ilse, entdeckte zwei Häftlinge, zwei weitere hatten sich auf dem Gelände versteckt. Eine schwierige und gefährliche Situation: Sollte die Familie die Häftlinge melden oder ihnen helfen? Sie entschied sich, zu helfen. "Damit sind sie ein hohes Risiko eingegangen", sagt Dorothee Roos. Aber es gehe doch immer um die Frage, wie man sich in solchen Situationen verhalten habe. Dorothee Roos: "Man hatte Entscheidungsspielräume, diese Familie hat sie genutzt - in aller Vorsicht."
Denn der Familie war es natürlich strikt untersagt, Kontakt zu den Männern aufzunehmen. Trotzdem geschah es, aber es war ein langer Weg dahin. Wie es für Ilse Horber auch ein langer Weg war, mit anderen als den Familienmitgliedern über das Erlebte zu sprechen. "Das war tief in ihr verschlossen. Aber jedes Mal, wenn sie darüber sprach, erinnerte sie sich auch wieder an Neues", erzählt Dorothee Roos. Dass Ilse Horber aus ganz unmittelbar Erlebtem erzählen konnte, ohne in der Täter- oder Opferrolle gewesen zu sein, mache ihre Zeitzeugenschaft so besonders.
Auch heute noch sei Ilse Horber in der Gedenkstätte präsent, sagt Dorothee Roos. Durch die Ausstellungsstücke, die sie zur Verfügung gestellt hat. Aber auch durch eine besondere Komposition. Die von einem Knochen, zwei Steinen und einer Traum-Speisekarte eines Häftlings. Was es mit dieser Zusammenstellung auf sich hat, das erklärt heute Dorothee Roos den Besuchern der Gedenkstätte. Früher hat Ilse Horber das selbst übernommen. Aber so, Dorothee Roos, "so ist sie immer noch hier präsent".
Info: Die KZ-Gedenkstätte Neckarelz ist an den Sonntagen im November noch jeweils von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Nachlesen kann man den Aufsatz von Dorothee Roos in: "Mut bewiesen. Widerstandsbiographien aus dem Südwesten.", herausgegeben von Angela Borgstedt, Sibylle Thelen und Reinhold Weber.