"Kriegstüchtig"?

Wortwahl von Verteidigungsminister Pistorius überrascht

Doch sie ist Bestandteil einer Strategie. Er setzt den Zeitenwende-Kurs fort.

31.10.2023 UPDATE: 31.10.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 7 Sekunden
Boris Pistorius
Verteidigungsminister Boris Pistorius. Foto: dpa

Von Mareike Kürschner, RNZ Berlin

Berlin. Als Verteidigungsminister Boris Pistorius am Sonntagabend in der ZDF-Sendung "Berlin direkt" vor Kriegsgefahren in Europa warnt und einen "Mentalitätswechsel" der Deutschen in Sicherheitsfragen fordert, überrascht er mit einem Wort: Kriegstüchtigkeit. "Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte", sagte der SPD-Politiker. "Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen."

Der Verteidigungsminister setzt damit einen Gedankengang fort, den Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit seiner historischen Rede zur Zeitenwende wenige Tage nach der Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 angestoßen hatte. Seitdem ist die Regierung bemüht, den abstrakten Begriff in die politische Realität zu übersetzen. Zum einen mit viel Geld. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll die runtergewirtschaftete Bundeswehr wieder kampfbereit machen.

Zum anderen wird sich langsam an eine Debatte gewagt, die weit über das Finanzielle hinausgeht. Im Juli hatte bereits der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer von der Zeitenwende als "Gedankenwende" gesprochen. Denn allein mehr Geld für die Bundeswehr macht Deutschland noch lange nicht verteidigungsbereit. Doch bisher blieb es bei Worten. Ein strategischer Diskurs fehlt. Woran liegt das?

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck bemängelte vergangene Woche im Interview mit unserer Zeitung "ein Defizit an strategischem Bewusstsein" in Deutschland. "Es geht nicht, dass eine so große Nation mit einer so bedeutenden Wirtschaft und Rolle in der Weltgemeinschaft an diesem Punkt so nachlässig ist. Wir haben immer noch zu wenige Kompetenz auf diesem Gebiet." Er forderte neue Lehrstühle für strategisches Denken. "Eine Friedensliebe, die blind macht, ist kein Geschenk an die Gesellschaft", kritisierte Gauck. "Deshalb brauchen wir eine Verbindung unserer friedfertigen Gesinnung mit der klaren Absicht und Fähigkeit, das Recht, das Völkerrecht zu verteidigen."

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Gauck spricht es an: Nicht nur die militärische Fähigkeit ist für Kriegstüchtigkeit relevant, sondern auch die Absicht, die mentale Verfassung. Und da ist festzustellen, dass schnell nach dem Kriegsausbruch vor eineinhalb Jahren ein Teil der Gesellschaft wieder in den Zustand von vor dem Krieg zurückgefallen ist.

Der Vizefraktionsvorsitzende der Union im Bundestag und Verteidigungspolitiker, Johann Wadephul (CDU), sagte zu den Worten des Verteidigungsministers: "Die Analyse stimmt, doch mehr als anderthalb Jahre nach der Verkündung der Zeitenwende fehlt es noch immer an echten Schritten, diese umzusetzen." Wadephul vermisst den Gestaltungswillen bei der Ampel-Regierung.

"Es darf darum nicht verwundern, dass auch in weiten Teilen der Bevölkerung das Verständnis zur neuen Bedeutung von Verteidigung und den damit verbundenen Mühen sich nicht tiefgreifend verändert hat", sagte er der RNZ. Den Menschen werde durch die Regierung "nicht wirklich kommuniziert, was sich verändern muss".

Im parlamentarischen Raum beschränkt sich die Debatte auf das Finanzielle, hier fehlt es an politischer Weitsicht: Der Unwille ist groß, bei der Verteidigung schon jetzt den Haushalt massiv zu erhöhen. So betont der Kanzler zwar, das Sondervermögen verschaffe die nötige Zeit, um die Lücke im Haushalt bis 2028 zu schließen. Wie? Darüber wird nicht diskutiert. Stattdessen wird der Eindruck erweckt, dass auch im Parlament die Zeitenwende noch nicht überall angekommen ist.

Wie aber soll der Gesellschaft der von Pistorius angesprochene Mentalitätswechsel gelingen, wenn die Politik ihn nicht vorlebt? Darauf zu hoffen, dass die Welt wieder friedlicher wird, kann keine Option sein. Pistorius’ Appell ist daher richtig – allein Worte werden an der Wehrhaftigkeit der Menschen nichts ändern.

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