Plus Rock-Show am Hockenheimring

Bruce Springsteen bleibt fast drei Stunden auf dem Gaspedal

Der Letzte seiner Art: Mehr als 80.000 Menschen feiern den unverwüstlichen "Boss".

22.07.2023 UPDATE: 22.07.2023 13:55 Uhr 3 Minuten, 37 Sekunden
Was für ein Energiebündel: Bruce Springsteens Spielfreude ist auch mit 73 Jahren noch ansteckend. Foto: Dorothea Lenhardt

Von Daniel Schottmüller

Hockenheim. Er bearbeitet seine Gitarre, wühlt sich förmlich übers Griffbrett. "I’ve been working real hard, tryin’ to get my hands clean", hat Bruce Springsteen gerade gesungen. . Jetzt haut er mit bandagierter Schlaghand in die Saiten, schüttelt seine Axt und runzelt die Stirn wie ein Handwerker, der die entscheidende Schraube einwuchtet. "Prove It All Night" heißt der Song und der Amerikaner lässt seine ramponierte Telecaster jaulen, weinen und schreien, dass es zu Herzen geht.

Muss es auch. Denn hier erklingt eine dieser "Ur-Brucigen" Aufbruchshymnen. Eine inständige Bitte an die Angebetete, die Zweifel und Zweifler hinter sich zu lassen. "They’ll never know what it’s like to live and die!" Also lass uns abhauen. Heute Nacht noch. Raus aus der Enge, rein in eine ungewisse, aber gemeinsame Zukunft.

Nun ist Bruce Springsteen 73 Jahre alt, Multimillionär und Memoirenautor. Er, der einstige "Born To Run"-Rebell, lebt inzwischen keine zehn Autominuten von seiner Heimatstadt Freehold, New Jersey, entfernt. Zusammen mit seiner Frau Patti, mit der er seit 32 Jahren verheiratet ist, residiert der "Boss" auf einer riesigen Ranch mit Privatstudio. Hier lässt er sich aufnehmen, wenn Ex-Präsident Barack Obama mal wieder für einen Podcast-Plausch einschneit.

Und trotzdem: Dieser privilegierte Songwriting-Senior kann seine Eskapismushymnen singen, ohne dass man an seinen Intentionen zweifeln würde. Die mehr als 80.000 am Hockenheimring liegen Springsteen von der ersten Sekunde an zu Füßen. Da kann das Parkticket und Tour-T-Shirt noch so viel kosten, die An- und Abreise noch so chaotisch ablaufen: Seine Fans wissen zu schätzen, mit wie viel Gefühl sich der Mann in den Bluejeans abrackert. 

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Direkt zum Start am Motodrom legt Springsteen eine wilde Fahrt durch die Jahrzehnte hin. Zu "No Surrender" von 1984 schalten gegen halb acht die Ampeln auf Grün. Mit "Ghosts" aus dem 2020er-Album "Letter To You" drückt die E Street Band weiter aufs Gaspedal, um mit "Prove It All Night" eindringlich in die Seventies einzubiegen.

Das gospelhafte "The Promised Land" aus dem Jahr 1986 eröffnet dann zumindest inhaltlich den Blick auf die Zielgerade. Getränkepausen oder Zwischenansagen? Nur was für Faulenzer ... "One, two, three, four!", jauchzt sich Springsteen von einem Outro ins nächste Intro. Die Gitarre, die er gerade seinem Roadie zugeschmissen hat, wummert noch nach, während er bereits grinsend die nächste bespielt.

Seine Kumpanen gehen dieses Tempo locker mit. Allen voran "Little Steven" Van Zandt, der nach dem Tod von Saxofonist Clarence "Big Guy" Clemons die Rolle des Sidekicks angenommen hat. Der Gitarrist (und "Sopranos"-Darsteller) entert die Bühne mit rotem Piratenturban, Halsketten und verwegen tief baumelnden Ohrringen.

Im Verlauf des knapp dreistündigen Auftritts wird er sich mit seinem Bandleader so manches Späßchen gönnen. Aber auch Max Weinberg am Schlagzeug, Clemons‘ Neffe Jake am Saxofon und all die anderen, die sich da oben tummeln – gefühlt taucht bei jedem Song ein neues Gesicht auf der Großleinwand auf – liefern eindrucksvoll ab.

Sie sind eben "the heart-stoppin‘, pants-droppin‘, earth-shockin‘, hard-rockin‘, booty-shakin‘, earth-quakin‘, love-makin‘, Viagra-takin, history-makin‘, legendary E STREET BAND", wie Springsteen im Stil eines vom Heiligen Geist durchzuckten Südstaaten-Predigers verkündet. Halleluja!

Die ersten Highlights setzt man aber nicht mit den altbekannten SWR-1-Hits. Stattdessen schleicht sich die Gangsternummer "Kitty’s Back" aus dem Jahr 1973 in die Gehörgänge. Bei den spannungsgeladenen Big-Band-Bläsersounds fühlt man sich an Kurt Weills "Mack The Knife" erinnert, während Springsteens Erzählerstimme sich in ein Tom-Waits-artiges Grummeln verwandelt.

In den Strophen von "Mary’s Place" verfällt er gar in ein Flüstern, um die erste große Ballade "The River" dann wieder im Stile eines Operntenors ausplätschern zu lassen. In all diesen Liedern mischt sich die irische Melancholie väterlicherseits mit der ansteckenden italienischen Fröhlichkeit, die Bruce Frederick Joseph Springsteen von seiner Mutter in die Wiege gelegt wurde.

Überraschend leichtfüßig für den rustikalen Performer kommt dann "Nightshift", ein Cover von Lionel Richies Commodores, ums Eck. Hier dürfen die Perkussionisten und Background-Sänger ihr Können zeigen. Aber klar: Die "Boss"-Hits bleiben an diesem strahlenden Sommerabend unvermeidlich. Als "Glory Days", "Dancing In The Dark", "Badlands" oder "Born To Run" über die Rennstrecke schallen, tanzen sogar die Anhänger auf den Oberrängen mit.

Ja, Bruce Springsteen ist vielleicht der letzte große Vereiner und damit das, was Joe Biden gerne geworden wäre. Einer, dem es gelingt, den Laden zusammenzuhalten, in dem er die Wirkmacht des Amerikanischen Traums heraufbeschwört. Für den Jungen aus Jersey, der einst mit der Gitarre im Arm am Strand pennte, wenn bei den Kollegen auf der Couch oder den Mädels im Bett kein Platz war, sollte er in Erfüllung gehen.

Beseelt von der Idee einer "more perfect union" hat er sich revanchiert. Mit Songs wie "The Ghost Of Tom Joad" machte sich Springsteen für Einwanderer stark, mit "The Rising" sang er der westlichen Welt nach den Attacken des 11. Septembers Mut zu. Ein letztes Aufrütteln des wütenden Patrioten erfolgte 2012, als er mit "Wrecking Ball" die Abrissbirne Richtung Wall Street feuerte.

Seit dem Amtsantritt von Donald Trump 2017 hat sich der Superstar jedoch eher auf die Nostalgie gestützt. Überfordern diese Zeiten selbst den Unverwüstlichen unter den US-Songwritern? Immerhin – und das unterscheidet ihn von den meisten seiner rockenden Altersgenossen: Das Feuer der Eindringlichkeit lodert auch noch auf seinen aktuelleren Veröffentlichungen.

In Hockenheim fühlt man sich an Springsteens grandiose Broadway-Show erinnert, als er in die einbrechende Dunkelheit hinein von seinem Jugendfreund George Theiss zu erzählen beginnt. Drei Jahre spielten sie zusammen in Springsteens allererster Band, The Castiles.

Aber nachdem er nun am Totenbett Abschied von George nehmen musste, ist der 73-Jährige der letzte Verbliebene dieser Tage. Nur von seiner schwarzen Westerngitarre begleitet, stimmt er daraufhin "Last Man Standing" an. Die Menge lauscht ergriffen. Ob sie noch einmal ein solches Konzert erleben werden, wie Bruce Springsteen es ihnen an diesem Abend geboten hat?

Update: Sonntag, 23. Juli 2023, 11.41 Uhr

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