Von Heribert Vogt
Heidelberg. Den ungewöhnlichen Lübecker Stolz verband Jan Assmann mit der großen Hansetradition und der mittelalterlichen Altstadt im Weltkulturerbestatus, das Charakteristikum Heidelbergs sah er hingegen in der ältesten Universität Deutschlands. Deren Professoren seien mindestens ebenso stolz wie die Patrizier der Hansestadt. So die Einschätzung des heute in Konstanz wohnenden Ägyptologen, der in Lübeck aufwuchs und dann ein halbes Jahrhundert in Heidelberg lebte. Ausgangspunkt war Thomas Manns Formulierung von Lübeck als geistige Lebensform. Und entsprechend befasste sich Assmann nun bei Dieter Borchmeyers Heidelberger Vorträgen zur Kulturtheorie unter dem Motto "Kulturstadt und Kulturnation" mit dem Thema "Heliopolis - Memphis - Theben. Ägypten als geistige Lebensform".
Damit sind die heiligsten altägyptischen Städte genannt, die alle drei in Thomas Manns Josephs-Romanen als Orte einer besonderen Lebensform charakterisiert werden. Gleichwohl sind ägyptische Städte samt und sonders Gottesstädte. Sie bilden den Herrschaftsbereich der Gottheit, die in ihrem Haupttempel wohnt. Und Heliopolis war die Stadt des Sonnengottes. Bei Thomas Mann gleißte sie vor Gold wie Weisheit. Aber tatsächlich war in Heliopolis die priesterliche Wissenschaft zuhause, wie etwa Zeitmessung oder Astronomie.
Dort entstand auch eine anspruchsvolle Theologie, der zur Folge letztlich alle Götter eins sind. Amun, der Gott von Theben, heißt der Verborgene. Re, der Gott von Heliopolis, ist die Sonne, und Ptah, der Gott von Memphis, ist der Gott der Bilder und Bildner. Heliopolis, Memphis und Theben sind die Städte eines dreieinen Gottes. Diese drei Zentren entwickeln im Neuen Reich ihre jeweils eigene Theologie, wobei Theben eine führende Rolle spielte.
Als sprachlich besonders aufwendig erscheint der Kult des Sonnengottes. Hunderte von Sonnenhymnen sind erhalten, vor allem aus Theben. Dennoch war Heliopolis das Zentrum für Sonnentexte. In der dortigen Theologie bildete die Weltentstehungslehre das Zentrum. Sie hatte in Ägypten über 3000 Jahre kanonischen Rang, alle lokalen Lehren entwickelten sich aus dieser Wurzel.
Der Hauptgedanke ist, dass alles aus einem Gott und dieser eine Gott aus sich selbst stammt. Demnach verdankt die Welt ihr Werden keinem transzendenten Schöpfungsakt, sondern einer ihr innewohnenden Urkraft, deren Symbol der Skarabäus, der heilige Mistkäfer, ist. Von ihm nahm man an, dass er auch ohne sexuelle Reproduktion auskommt, weil er spontan aus sich selbst entsteht. Das Bewusstsein göttlicher Beseeltheit der Welt bildete durch alle Epochen den Grundzug Ägyptens als geistige Lebensform.
Die nächste Stadt bei Thomas Mann ist Memphis, eine so internationale wie weltliche Großstadt. Aber auch Memphis ist eine Gottesstadt. Hier residiert Ptah, der Gott der Künstler und Bildner, der Kunstwerke schuf und Schutzherr der Bildmetzen sowie Handwerker war. Die Götterlehre von Memphis denkt die heliopolitanische weiter. Dieses Weltentstehungssystem betrachtet Herz und Zunge als Schöpfungsorgane: Die Erkenntnis entsteht im Herzen aufgrund der ihm gemeldeten Sinnesdaten, und die im Herzen geformte Erkenntnis wird von der Zunge artikuliert. Es handelt sich um die höchstentwickelte ägyptische Schöpfungsdarstellung durch das Wort.
Assmann weiter: "Die Ägypter haben ihre Städte geliebt und fühlten sich ihnen auf eine ganz besondere Weise verbunden." Sie verstanden sich nicht als Ägypter, sondern als Stadtbewohner. Sie wollten da leben und begraben werden, wo die Gräber der Vorfahren waren und wo die Nachkommen ihre eigenen Gräber besuchen würden. Das gehörte unbedingt zur ägyptischen Stadt als geistige Lebensform. Daher ist auch das Heimweh nach der Heimatstadt in der ägyptischen Kultur präsent.
Schließlich stellte der Ägyptologe mit Blick auf Theben generell fest: "Die Stadt als geistige Lebensform ist für die Ägypter in aller Regel ein Ort der Gottesnähe." So wurden Feste als öffentliche Prozessionen gefeiert. Zu ihnen kamen nach Theben Pilger von überall in Ägypten. Sie begleiteten die Prozessionen mit Gebeten und direkten Fragen, sodass eine persönliche Beziehung zu dem Gott Amun erwuchs, die als "persönliche Frömmigkeit" bezeichnet wird. Diese wurde eine religiöse Bewegung in ganz Ägypten, sie hatte ihren Ursprung jedoch in der thebanischen Festkultur. Assmann: "Wenn etwas Theben als geistige Lebensform charakterisiert, dann ist es die persönliche Frömmigkeit."
Gleichwohl erlebte auch die thebanische Weltentstehungslehre - besonders nach Echnatons religiösem Umsturz - eine besondere Blütezeit. Denn man kehrte dort nicht zur Tradition zurück, sondern suchte Echnatons Monotheismus durch einen Pantheismus zu überbieten, demnach alle Götter eins sind. In Theben entstand der Gedanke: "Gott ist die Seele, die sich als Welt verkörpert." Und diese Gottesidee blieb in Ägypten bruchlos bis in die griechisch-römische Zeit erhalten. In der europäischen Kulturgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts fand die überlieferte Idee der alleinen Gottheit dann noch einmal ihren Niederschlag.