Beim elften Deutschen Seniorentag am 3. Juli 2015 in Frankfurt blickten (v. l.) Liesel Verleger, Stefanie Wahl und Ruth Remus gut gelaunt in die Kamera. Alle drei konnten schon ihren 100. Geburtstag feiern. Foto: Arne Dedert
Von Geraldine Friedrich
Heidelberg. In Deutschland sind derzeit knapp 15.000 Menschen 100 Jahre alt oder älter, in der Schweiz sind es mehr als 1500 Menschen. Daniela Jopp, ehemals Leiterin der Zweiten Heidelberger Hundertjährigen- Studie (siehe Stichwort) und jetzt Professorin für Psychologie an der Universität Lausanne, verrät, warum sehr alte Menschen trotz Gesundheitsproblemen häufig glücklich sind.
Landläufig herrscht die Meinung, dass die Lebenszufriedenheit von der eigenen Gesundheit abhängt. Inwieweit gilt dies auch für Hundertjährige?
Daniela Jopp. F.: p
Natürlich spielt die körperliche Gesundheit für die Lebenszufriedenheit sehr alter Menschen eine Rolle, allerdings weniger als man meint und zudem eher indirekt. Fast alle Hundertjährigen haben erhebliche gesundheitliche Einschränkungen. Wenn Sie die aber fragen: "Wie geht es Ihnen", antworten die: "Mir geht’s prima." Fragen wir sie "Warum?" antworten Hundertjährige oft: "Alle anderen sind schon tot, da sollte ich nicht meckern." Entscheidend ist also nicht der tatsächliche Gesundheitszustand, sondern wie sie ihr Leben wahrnehmen.
Warum nehmen Hundertjährige denn ihr Leben trotz gesundheitlicher Defizite positiv wahr?
In der Altersforschung unterscheiden wir zwischen dem dritten Alter, das sind die "jungen Alten" zwischen etwa 65 und 79, dem vierten Alter, das sind die 80- bis 99-Jährigen, und eben den Hundertjährigen. Die 112 Teilnehmer der zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie bewerten ihr Leben signifikant positiver als beispielsweise 90- bis 94-Jährige. Es entspricht dem Niveau der 80- bis 89-Jährigen. Das klingt jetzt sehr theoretisch, aber fünf Jahre in dieser Lebensphase entsprechen vielleicht 15 in jüngeren Jahren.
Für uns Forscher ist das Ergebnis deshalb so spannend, weil Hundertjährige rein körperlich viel weniger Ressourcen haben als eben besagte 80- bis 94-Jährige. 94 Prozent der Hundertjährigen haben große Probleme mit dem Hören oder Sehen, 72 Prozent haben starke Einschränkungen in ihrer Mobilität, 60 Prozent haben Erkrankungen im Bewegungsapparat und 57 Prozent Herz-Kreislauf-Probleme. Etwa 45 Prozent leiden an Bluthochdruck, wobei Bluthochdruck in sehr hohem Alter eher positiv wirkt. Möglicherweise liegt es daran, dass Menschen mit höherem Blutdruck sich eher zu Aktivitäten aufraffen können. Grundsätzlich verknüpfen wir ein größeres Ausmaß an körperlicher Gesundheit mit höherem Wohlbefinden. Und das ist eben genau bei den Hundertjährigen nicht der Fall. Wir vermuten, dass die geringe Beziehung zwischen Lebenszufriedenheit und körperlicher Gesundheit mit psychologischen Stärken zusammenhängt. Hundertjährige sind oft starke Persönlichkeiten, die im Leben schon so manche Krise überlebt haben, sei es Krieg, Hunger, Flucht oder Verfolgung.
Können Menschen denn ihre Lebenseinstellung im Alter positiv beeinflussen?
Natürlich ist das auch eine Charakterfrage, und Persönlichkeitsstrukturen werden auch vererbt. Eine positive Lebenseinstellung lässt sich aber auch trainieren. Menschen, die extrovertiert sind, ihren Freundeskreis pflegen, am Zeitgeschehen teilhaben und vielleicht eine Leidenschaft pflegen, haben es im hohen Alter deutlich leichter als Menschen, die das halb volle Wasserglas eher als halb leer empfinden.
Wie lässt sich das konkret umsetzen?
Zu den wichtigen Fähigkeiten im Alter gehört die Fähigkeit, Kompromisse zwischen dem Erwarteten und dem Erreichten schließen zu können. Während jüngere Personen eher aktive, problemorientierte Bewältigungsstrategien nutzen, etwa versuchen, ein Problem aus der Welt zu schaffen, setzen Personen im höheren Alter eher auf kognitive Strategien, bei der sie ein Problem oder eine negative Veränderung umbewerten. So wird aus einer kranken Hundertjährigen eine Überlebende, weil sie sich nicht mit jüngeren Menschen vergleicht, sondern mit denen, die schon tot sind. Das Verwenden solcher kognitiver Strategien hat natürlich auch damit zu tun, dass man im Alter öfter mit Schwierigkeiten konfrontiert ist, die man akzeptieren muss, wie den Tod des Lebenspartners oder das Leben mit einer chronischen Erkrankung.
Ihre Studienergebnisse beruhen ja auf persönlichen Interviews. Wie schwer ist es eigentlich, an Hundertjährige ranzukommen?
Es ist relativ aufwendig. Für unsere Heidelberger Studien hatten wir zwar die Adressen vom Einwohnermeldeamt und konnten so alle Hundertjährigen, die im Umkreis von 60 km von Heidelberg lebten, direkt anschreiben. Manche Hundertjährige konnten aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen, manchmal waren die Familien auch zu sehr besorgt und verhinderten die Teilnahme. Interessant war bei der zweiten Hundertjährigen-Studie, dass einige potenzielle Teilnehmerinnen uns antworteten: "Ich habe was Wichtigeres zu tun als Ihre Fragen zu beantworten."
Sie haben die zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie geleitet und an den Auswertungen der ersten als Post-Doktorandin bereits mitgearbeitet. Wird es denn eine Schweizer Hundertjährigen-Studie geben?
Tatsächlich bin ich gerade dabei, eine Schweizer Studie zu initiieren. Das Besondere an der Schweiz sind ja die verschiedenen Sprachräume. Wir wollen für die Deutschschweiz, die Romandie und die italienische Schweiz parallele Fragebogen aufsetzen, denn zwischen den einzelnen Sprachräumen herrschen auch große kulturelle Unterschiede. So leben die Hundertjährigen der Deutschschweiz häufiger in Pflegeeinrichtungen als beispielsweise in der Romandie.
Was haben Sie für sich durch den Umgang mit Hundertjährigen gelernt?
Für mich steht ein gesunder Lebenswandel mit Bewegung und gesunder Ernährung an erster Stelle. Ich habe erfahren, wie wichtig der Erhalt meiner Gehfähigkeit für meine Unabhängigkeit im Alter sein wird. Wichtig sind auch die Pflege von Familienbeziehungen und Freundschaften. Und natürlich sehe ich, wie entscheidend eine optimistische Grundeinstellung zum Leben ist.