Gewichtheber Jürgen Spieß

"Zum ersten Mal geplatzt"

Gewichtheber Jürgen Spieß über eine verzichtbare WM-Erfahrung und seine Aussichten auf Tokio

27.12.2017 UPDATE: 28.12.2017 06:00 Uhr 3 Minuten, 53 Sekunden

Jürgen Spieß hat keine Erklärung für seine drei Fehlversuche bei der WM. Foto: Weindl

Von Roland Karle

Obrigheim. Er schritt bedächtig zur Hantel, schraubte seine Hände um die Stange und blies die Backen auf. Dann hievte er ein ums andere Mal die Eisenportionen in die Horizontale, atmete aus und dankte artig für den Applaus. Jürgen Spieß fiel sein letzter Auftritt in diesem Jahr sichtlich schwer, aber danach war er erleichtert. "Die sechs gültigen Versuche tun gut", gestand der Kapitän des AV Speyer nach dem knapp gewonnenen Bundesliga-Duell beim SV Obrigheim. Hinter dem Gewichtheber lagen ereignisreiche Tage - inklusive einer gar nicht schönen Bescherung, die er sich zwei Tage vor Nikolaus selbst eingebrockt hatte. "Ich habe bis heute keine richtige Erklärung dafür", sagt der 33-Jährige über seine drei Fehlversuche bei der Weltmeisterschaft in Anaheim/USA. Im RNZ-Interview zieht der dreimalige Olympia-Teilnehmer seine persönliche Jahresbilanz und sagt, wie es für ihn weitergeht.

Hintergrund

Die Chancen nicht genutzt

Acht deutsche Gewichtheber waren bei der WM in Anaheim/USA am Start. Da neun Nationen wegen Dopingvergehen gesperrt waren, liebäugelten sie auf vordere Platzierungen. "Leider ist es fast keinem Athleten gelungen, sein

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Die Chancen nicht genutzt

Acht deutsche Gewichtheber waren bei der WM in Anaheim/USA am Start. Da neun Nationen wegen Dopingvergehen gesperrt waren, liebäugelten sie auf vordere Platzierungen. "Leider ist es fast keinem Athleten gelungen, sein Potenzial zu zeigen und die Chancen dieser doch sehr besonderen WM zu nutzen. Die Gründe müssen angemessen analysiert werden", sagt Bundestrainer David Kurch.

Lediglich Robert Joachim (Berlin) als Siebter in der 69 K-Klasse und Tom Schwarzbach (Speyer), Rang acht bis 85 kg, schafften den Sprung in die Top Acht und somit in den A-Kader, der den Athleten eine bessere Förderung garantiert.

Michael Müller (Berlin) musste während des Aufwärmens wegen Verletzung seinen Start absagen, Simon Brandhuber (Roding) und Jürgen Spieß (Kirchheim) fabrizierten ein Loch und blieben ohne Zweikampfwertung.

Unter ihren Möglichkeiten blieben auch der Chemnitzer Max Lang (11.) und Nico Müller (13.) vom SV Obrigheim.

Als Elfter im Superschwergewicht erfüllte Alexej Prochorow (Baunatal) als einer der wenigen die Erwartungen.

Bundestrainer Kurch zeigt sich mit dem Abschneiden entsprechend unzufrieden. Für sein Resümee bemüht er den Konjunktiv: "Vergleicht man die diesjährigen Leistungen bei der EM und die persönlichen Bestleistungen unserer Heber mit dem Endergebnis bei der WM, dann hätten sich fast alle Sportler unter den besten acht Athleten in ihrer Gewichtklasse platzieren können." rol

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Die deutschen Gewichtheber flogen mit großen Ambitionen zur WM und kehrten ernüchtert zurück. Woran lag’s?

Schwer zu sagen. Kaum ein Athlet erreichte seine Bestform oder kam an kurz zuvor gezeigte Leistungen heran. Wir hatten uns alle mehr vorgenommen und sind entsprechend enttäuscht.

In manchen Gewichtsklassen traute man deutschen Hebern vordere Platzierungen oder sogar eine Medaille zu, nachdem neun Nationen wegen Dopingvergehen von der WM ausgeschlossen worden waren. Die Gunst der Stunde hat das Team nicht genutzt.

Ja, das stimmt leider. Es hat schon etwas tragisch begonnen, als Simon Brandhuber in der 69-kg-Klasse im Reißen 145 kg eigentlich bewältigt hat, dann das Gewicht nach hinten weglegt und sich dabei noch verletzt. Das wäre Bronze gewesen.

So aber ging Brandhuber angeschlagen ins Stoßen und brachte keinen Versuch in die Wertung. Frust statt Freude bei Ihrem Teamkollegen - aber das erklärt doch nicht, dass danach fast die gesamte Mannschaft untergeht?

Natürlich ist das keine Entschuldigung, aber man darf das nicht unterschätzen: Wenn Simon mit Bronze von der Bühne geht, kann in einem Team schnell eine eigene Dynamik entstehen, die alle mitreißt.

Sie sind mit 163 kg ins Reißen eingestiegen. Ein Gewicht, das Sie vier Wochen zuvor bei der deutschen Meisterschaft erfolgreich bewältigt haben. Bei der WM haben Sie drei ungültige Versuche fabriziert. Was ist schiefgelaufen?

Ganz ehrlich, ich habe bis heute keine richtige Erklärung dafür. Es war das erste Mal in meiner Karriere, dass ich auf der Bühne geplatzt bin. Mit einer Ausnahme: Ich glaube, es war in der C-Jugend, da habe ich bei einer Bezirksmeisterschaft in Neulußheim mal 80 kg drei Mal weggeschmissen. Das ist mehr als 20 Jahre her. Und jetzt passiert mir so was.

Hatten Sie vorher schon ein schlechtes Gefühl, waren Sie nicht richtig gesund, gab es irgendwelche Zeichen, die Sie übersehen haben?

Beim Aufwärmen habe ich 160 Kilo gerissen, das war okay. Entsprechend habe ich mit drei Kilo höher angefangen. Ich hatte zwar schon ein paar Wochen lang mit einer Erkältung zu kämpfen, aber das ist keine Entschuldigung.

Sie hatten vor der WM gesagt, dass Sie gerne mehr trainiert hätten und die Vorbereitungszeit zu kurz für Sie war.

An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. Ich habe gedacht, mit meiner Erfahrung kann ich einiges ausgleichen. Und ich bin ja auch ein Wettkämpfer, der an und über seine Grenzen gehen kann, wenn es sein muss. So weit bin ich dieses Mal gar nicht gekommen. Tja, vielleicht habe ich angesichts der knappen Vorbereitungszeit doch zu viel gewollt und die fehlende körperliche Substanz hat sich bemerkbar gemacht.

Sie konnten wegen eines Sehnenrisses in der Schulter von Mai bis August kein Über-Kopf-Hanteltraining absolvieren. Bis wenige Wochen vor dem Start war nicht klar, ob Sie überhaupt mitfahren in die USA. War es ein Fehler?

Die Verletzung hat meine Vorbereitung natürlich beeinträchtigt, aber ich habe mich dann doch recht schnell wieder an Belastungen gewöhnt. Ich war zwar nicht in Bestform, aber bei der deutschen Meisterschaft habe ich die Norm geschafft und mich gut genug gefühlt, um bei einer WM zu heben. Die Entscheidung würde ich wieder so treffen.

Wenn Sie Ihre geplanten Versuche geschafft hätten, was wäre unterm Strich für Sie drin gewesen?

Mit meiner Zweikampfleistung von 360 Kilo, die ich bei der DM gemacht habe, wäre ich bei der Weltmeisterschaft Siebter geworden. Das hätte also locker gereicht, um in den A-Kader zu kommen. Dafür ist eine Top-8-Platzierung erforderlich. Umso ärgerlicher ist die ganze Sache.

Knapp zwei Wochen später in der Bundesliga sind Ihnen für Ihren Klub AV Speyer im Spitzenduell gegen den SV Obrigheim sechs gültige Versuche gelungen. Welchen Stellenwert hat das?

Das hat gut getan. Vor allem, weil ich nach der WM erst mal ein paar Tage richtig platt war und mich der Arzt krankgeschrieben hat. Ich war erst drei Tage vor dem Wettkampf in Obrigheim wieder auf den Beinen. Und da habe ich eben alles ausgepackt, was ging. Mit viel Wille und ein bisschen Gewalt.

Sie sind jetzt 33, also ein Mann im gehobenen Gewichtheber-Alter. Wie geht es für Sie weiter?

Mir macht das Gewichtheben immer noch große Freude, daran ändert das aktuelle WM-Erlebnis nichts. Im Vergleich zu meiner Zeit als Sportsoldat, als ich mich voll und ganz aufs Gewichtheben konzentrieren konnte, hat sich mein Tagesablauf erheblich verändert. Im Mittelpunkt steht meine Ausbildung bei der Polizei, trainiert wird am Abend, für Regeneration bleibt deutlich weniger Zeit. Ich werde zwar zu internationalen Wettkämpfen und auf Antrag auch für Lehrgänge freigestellt, aber mein Lernpensum muss ich dennoch absolvieren.

Der Weltverband wird 2018 die Zahl der Gewichtsklassen reduzieren und neu bestimmen. Für Olympia können sich zudem nur noch maximal vier statt sechs Gewichtheber pro Nation qualifizieren und das auf Basis einer Weltrangliste. Sind diese Änderungen für Sie eher Vor- oder Nachteil?

Das muss man abwarten. Gut finde ich die Regelung, dass künftig die Leistung des einzelnen Athleten stärker gewichtet wird im Vergleich zu früher, als die Mannschaftswertung bei zwei Weltmeisterschaften darüber entschied, wie viele Heber ein Land für Olympia nominieren darf.

Die nächsten Olympischen Spiele sind 2020 in Tokio. Werden Sie dabei sein?

Es ist noch lange hin bis Tokio. Aber ich habe den Ehrgeiz, in Tokio dabei zu sein. Und ich traue mir zu, die Qualifikation zu schaffen. Das wären dann meine vierten Olympischen Spiele und für mich etwas Besonderes.

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