"So etwas habe ich noch nie erlebt"
Obrigheimer Gewichtheber bezwingen zum Bundesliga-Start in der Neckarhalle den Berliner TSC mit 764,6:645

Mit 151 Punkten war Emily Campbell Obrigheims Beste.
Von Roland Karle
Obrigheim. Die Personalsorgen waren groß vor dem Saisonauftakt der Obrigheimer Gewichtheber. Neun Sportler, darunter die Bundeskader-Athleten Nico Müller und Matthäus Hofmann, fehlten. Und selbst der Hallensprecher musste ersetzt werden: Franz Hauß, der seit gefühlt hundert Jahren die Zuschauer live über das Geschehen informiert, war am Samstag andernorts im Einsatz. Er betreute den Obrigheimer Nachwuchs bei den Landesmeisterschaften der Schüler in Eisenbach.
Doch wie am Mikrofon, an dem Hauß-Vertreter Dirk Rinderle seine Sache prima machte, so lief auch auf der Bühne alles bestens. Kapitän Jakob Neufeld und seine Kolleg/inn/en zerstreuten schnell jeden Zweifel, dass der Berliner TSC im achten direkten Duell gegen Obrigheim seinen ersten Sieg landen könnte. Nach zwei Stunden stand der glatte 3:0-Sieg bei einem Ergebnis von 764,6:645 Relativpunkten fest. Manuel Noe war froh, dass seine Prognose ("Das wird wohl ein ziemlich enges Ding") nicht eintraf. Bereits beim Einmarsch der Gäste wuchs die Siegeszuversicht des Teamchefs erheblich. Petr Marecek, Patricia Rieger und Chantal Schreiber fehlten - auch der Hauptstadt-Club konnte nicht aus dem Vollen schöpfen.

Gelungener Einstand von Mohammed Hoblos: Er steuerte 131 Punkte zu Obrigheims Sieg über den Berliner TSC bei. Fotos: S. Weindl
Am Ende traf Noes Hochrechnung - er hatte 761 Punkte für seine Mannschaft kalkuliert - fast genau das reale Ergebnis. "Ein toller Auftakt, ich bin mehr als zufrieden", resümierte der Sport-Vorstand. Bemerkenswert: 34 von insgesamt 36 Hebungen klappten, das entspricht einer Gelingensquote von über 94 Prozent. Die beiden Fehlversuche von Celina Schönsiegel sind dabei auf dem "Kann passieren"-Konto zu verbuchen. Die 17-Jährige ging im dritten Durchgang jeweils aufs Ganze, wollte ihre persönlichen Rekorde knacken. Daran scheiterte die 57 Kilo leichte Athletin knapp, steuerte aber 100 Punkte zum Mannschaftsergebnis bei.
Die zweite Frau an Bord, Emily Jade Campbell, erkämpfte sich derweil mit 151 Punkten souverän den Tagessieg vor Moritz Huber (135) und dem Berliner Leon Schedler (132). Acht Jahre älter und fast 60 Kilo schwerer als Schönsiegel, knüpfte die kolossale Britin an ihre Leistungen bei der Weltmeisterschaft in Thailand an, wo sie vor zweieinhalb Wochen Neunte wurde. Während Campbell bei ihrem dritten Einsatz für Obrigheim schon eine gewisse Vertrautheit ausstrahlte, begaben sich Huber und Mohammed Hoblos in der Neckarhalle auf sportliche Jungfernfahrt. "Jetzt bin ich schon 29 Jahre alt und habe über 200 Wettkämpfe gemacht, aber so etwas habe ich noch nie erlebt", gestand Hoblos.
Er meinte damit die Kulisse, mehrere Hundert Zuschauer, die lautstark anfeuerten und selbst dem Gegner applaudierten. Der Neuzugang von SuS Derne, einem Verein im Stadtgebiet von Dortmund, ging mit weichen Knien auf die Bühne. Wie er im Reißen auf halbem Weg fast innehielt, leicht ins Wanken geriet und dann wie ein in die Jahre gekommener Lastenaufzug die 130 Kilo schwere Hantel beinahe zeitlupenhaft nach oben bugsierte, das sieht man selten. "Ich bin immer noch ein bisschen nervös", erklärte Hoblos kurz nach Ende des Wettkampfs seinen kreativ-kämpferischen Einstieg. Mit 131 Punkten war er viertbester unter den zwölf Hebern der Begegnung.
Moritz Huber, der zweite Debütant, hatte in Nico Müller einen Olympia-Teilnehmer als Betreuer zur Seite. "Er war ganz schön aufgeregt, das spürte man", verriet der WM-Elfte von Thailand, der nach den Belastungen der letzten Monate planmäßig pausierte. Offensichtlich übertrug Müller die ihm eigene Ruhe auf den neuen Teamkollegen. Huber, vom KSV Lörrach gekommen, 21 Jahre jung, widersetzte sich entschlossen der Schwerkraft und absolvierte einen tadellosen Wettkampf. "Wahnsinn, wie man hier heben kann", bedankte er sich beim Publikum. Schon seit Jahren habe er davon geträumt, in der Neckarhalle für den SV Obrigheim die Hantel zu stemmen.
Teamchef Noe zollte den beiden Neuen ein Extra-Lob. "Sie haben einen klasse Einstand gegeben und angedeutet, dass noch mehr von ihnen zu erwarten ist." Neben Frauenpower (Campbell, Schönsiegel) und Premierenfieber (Hoblos, Huber) liefert der Auftakt in die Bundesliga-Saison 2019/20 einen weiteren Zwischentitel: den Generationenvergleich. Jakob Neufeld, der bald 36-Jährige, und Ruben Hofmann, 19 Jahre, sind beide rund 80 Kilo schwer. Der Jüngere schien im Reißen fast unterfordert, so mühelos wirkend bewältigte er seine drei Versuche. Danach ging er auf Rekordjagd, und zwar erfolgreich: Unterstützt und beraten von Bruder Matthäus stieß er 155 Kilo, so viel wie noch nie. 118 Punkte sind seine zweitbeste Leistung im 15. Bundesliga-Wettkampf.
Damit konnte er seinen Teamkameraden Jakob Neufeld im internen Duell allerdings nicht schlagen. Der Senior bewältigte routiniert 130 Kilo im Reißen und 160 Kilo im Stoßen. Macht 129,6 Punkte im Zweikampf - es fehlten gerade mal 2,5 Kilo, um am Samstag zu den Top-3-Hebern zu gehören.
Neufeld wird auch in zwei Wochen wieder gefragt sein, wenn der SV Obrigheim erneut in eigener Halle gegen den KSV Durlach antritt. Die Karlsruher Vorstädter sind zwar mit einer Niederlage gegen den AV Speyer in die Saison gestartet, haben aber gut 800 Punkte erzielt. "Wir freuen uns über den Sieg gegen Berlin, aber unsere Konzentration gilt schon wieder der nächsten Aufgabe", sagt Manuel Noe. "Durlach wird uns alles abverlangen."



