Wie sehr Kinder und Jugendliche an der Pandemie leiden
Von Kinderleid und einem Brandbeschleuniger: Der Bericht der Kinder- und Jugendförderung im Gemeinderat macht die ganze Tragweite deutlich.

Von Armin Guzy
Eppingen. Die Prognosen für die kommenden Jahre sind wenig erfreulich, auch wenn der Gemeinderat gerade die Schulsozialarbeit um fast eine volle Stelle aufgestockt hat. Viele Kinder und Jugendliche in Eppingen haben massiv mit den Beschränkungen der zurückliegenden Monate zu kämpfen. "Wir werden noch lang mit den Folgen der Corona-Pandemie zu tun haben", sagte Jugendreferent Andreas Fischer voraus, als er dem Gemeinderat nun über die Arbeit der Kinder- und Jugendförderung zwischen September 2020 und August 2021 berichtete.
Das Gremium und Oberbürgermeister Klaus Holaschke stärkten Fischer und seinem Team zwar den Rücken, lobten deren Tätigkeit und bewilligten die Aufstockung der Schulsozialarbeit an den Grundschulen in Adelshofen, Rohrbach und Kleingartach, doch ob das tatsächlich reichen wird, um alle Probleme aufzufangen, ist längst nicht sicher – zumal ein weiterer Lockdown immer wahrscheinlicher wird und zudem kaum qualifiziertes Personal zu finden ist, um die um 0,8 Stellenanteile ausgeweitete Schulsozialarbeit tatsächlich zu verstärken.
Folglich spielten die 60.000 Euro, die die Stadt nun zusätzlich pro Jahr aufbringen muss, bei der Aussprache keinerlei Rolle. "Für uns steht nicht die monetäre Situation im Vordergrund, sondern dass wir gerade in dieser Phase mit unseren Kindern und Jugendlichen in Kommunikation bleiben", betonte Oberbürgermeister Klaus Holaschke. Denn: "Ich glaube, es geht ganz schnell, dass wir ein Kind verlieren."
Diese Einschätzung teilt er mit Fischer, der keinen Hehl aus der Zuspitzung der Lage machte: Früher habe es ein oder zwei "schwierige" Kinder pro Klasse gegeben, heute seien es teilweise schon bis zu 40 Prozent. Die Zahl notorisch sehr unruhiger Kinder mit geringer Frustrationstoleranz sei deutlich gestiegen. Und die Palette an Problemen, die Fischer und sein Team an den Schulen ausgemacht haben, ist noch viel breiter und lässt dennoch nur erahnen, was sich in manchen Familien oder auch in den Köpfen der Heranwachsenden in den vergangenen Monaten abgespielt hat. Motivationslosigkeit, Schulverweigerung und übermäßig viel Zeit im Internet sind dabei nicht die größten Probleme, denn der Bericht führt weit mehr auf: Missbrauch und sexuelle Gewalt, Ausgrenzung, Mobbing auf verschiedensten Wegen, Suchtprobleme der Eltern, Zwangsstörungen, häusliche Gewalt, Depressionen und in der Folge auch der Gedanke an Selbsttötung – während des Lockdowns konnte sieben jungen Menschen aus Eppingen nur mit einer ambulanten oder stationären Therapie in einer Fachklinik geholfen werden. Eine möglichst frühzeitige Suchtprävention war wegen der Beschränkungen kaum möglich.
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"Kinder und Jugendliche wurden größtenteils nicht gehört und beteiligt an den Entscheidungen in den letzten 15 Monaten", stellte Fischer fest. Viele junge Menschen hätten Entscheidungen und Einschränkungen nicht verstehen oder nachvollziehen können und hätten außerdem auf unwiederbringliche Erlebnisse wie Einschulungs- oder Abschlussfeiern oder Klassenfahrten verzichten müssen. Zudem gab es kaum Möglichkeiten, sich mit anderen zu messen, sich auszuprobieren, sich aneinander zu reiben und so Konfliktlösungsstrategien, Sozialverhalten und die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Etliche Kinder müssten nun große, individuelle Defizite aufholen und ihre Rolle in der Klasse erst wieder finden. "Wir werden verstärkt mit den psycho-sozialen Folgen konfrontiert werden", sagte Fischer vorher. Dass auch viele Eltern mit der sozialen Situation oder auch der Fernlerntechnik überfordert waren, machte der Jugendreferent anhand der Zahl der entsprechenden Gespräche deutlich.
Während der Lockdowns sei es am schwierigsten gewesen, den Kontakt zu den Jugendlichen aufrechtzuhalten, denn die jahrelang praktizierte und bewährte Form der Kinder- und Jugendarbeit, für die in Eppingen die Diakonische Jugendhilfe Heilbronn (DJHN) zuständig ist, war Mitte März 2020 jäh unterbrochen worden und musste durch neue, nicht erprobte Angebote ersetzt werden. Hinzu kam eine durch Schwangerschaft, Stellenwechsel und Selbstschutz bedingte angespannte Personalsituation, die Fischer als "Herausforderung" bezeichnete.
Über Soziale Medien, in Einzelspaziergängen oder am Telefon versuchten Fischer und sein Team, den jungen Menschen Angebote zu machen und zumindest die größten Probleme zu mildern. Zwei Tage in der Woche waren die Schulsozialarbeiter auch in der Notbetreuung aktiv, sie waren aber auch wichtig als Ansprechpartner für einige Lehrer, die teilweise unsicher waren, welches Fernlern-Pensum sie den Schülern zumuten konnten. Die Präsenzarbeit im Jugendzentrum kam von Dezember 2020 bis Mai 2021 komplett zum Erliegen. Stattdessen experimentierte man mit Online-Angeboten, suchte die Jugendlichen aber auch an deren Treffpunkten am Bahnhof, auf dem Schulcampus oder im Parkhaus auf. Insbesondere dabei zeigte sich, wie sehr die vor sechs Jahren auf Eis gelegte Dreiviertel-Stelle für Mobile Jugendarbeit fehlt. "Wir benötigen sie", sagte Fischer. "Ich denke schon, dass es einen Bedarf gibt", stimmte OB Holaschke zu, schränkte aber zugleich ein: "Aber das braucht auch ein Netzwerk auch von Kirchen und Vereinen et cetera."
Lob und Dank für die Kinder- und Jugendförderung kam von allen Fraktionen, aber auch Sorgen vor der Zukunft wurden deutlich: "Die Berichte werden zunehmend bedrückender", stellte Peter Wieser fest. Er bezeichnete Corona als "Brandbeschleuniger" dieser Entwicklung und regte ein städtisches Angebot für die Ferien an. Jörg Haueisen (FBW) zeigte sich erschreckt über die Gewalt "in unserem beschaulichen Eppingen", Melanie Veith (CDU) sprach einen "ganz großen Dank von uns" aus, und Reinhard Ihle (SPD) sagte zu Fischer: "Es ist traurig, was es für Fälle in Ihrer Arbeit gibt. Aber das macht auch deutlich, wie wichtig sie ist." OB Holaschke sprach von einem "riesigen Aufgabenfeld" und von "riesigen Belastungen" und rief Fischer zu: "Halten Sie durch! Ihre Arbeit ist sehr, sehr wertvoll für uns!"