Einsturzgefahr in Sinsheim

Einsturzgefährdetes Haus sorgt für "Testlauf" einer Hauptstraße-Fußgängerzone

Die gesperrte Hauptstraße sorgt derzeit für ein komplett anderes Sinsheim-Gefühl. Wie kommt das an bei den Sinsheimer an?

05.09.2018 UPDATE: 06.09.2018 13:00 Uhr 3 Minuten, 3 Sekunden

Sinsheim flaniert: In der Hauptstraße fahren noch bis zum morgigen Freitag keine Autos. Bei Passanten kommt die temporäre Fußgängerzone allerdings besser an als bei den Gewerbetreibenden. Foto: Tim Kegel

Von Tim Kegel

Sinsheim. Die Einsturzgefahr eines Hauses in der Hauptstraße 82 hat Sinsheim unfreiwillig das Gefühl einer Fußgängerzone ermöglicht: Es wird gebummelt, wo sonst Tausende Fahrzeuge und innerstädtischer Trubel zu Hause sind. Schaulustige strömen zur Baustelle. Ein seltenes Bild entsteht. Das Rathaus spricht von einem Testlauf wider Willen. Wie kommt’s an?

> Was denken Passanten? "Fantastisch" sagt Peter Katsch, pensionierter Ingenieur aus Sinsheim, "es funktioniert auch so." Hans Hoffmann, Rentner und früherer technischer Angestellter, ebenfalls aus Sinsheim, findet es "schön, aber nicht umsetzbar". Mangels einer Umfahrung der Innenstadt könne man den bei einem Durchfahrtsverbot entstehenden Verkehr "den Anwohnern "in der Werder- und Muthstraße nicht zumuten", sagt Hoffmann.

Steuerberater Werner Ambiel, der in der Gartenstadt lebt, nerven "ewige Umwege", die er zurzeit nehmen muss, um mit dem Auto von einer Ecke der Stadt in die andere zu kommen. Salvatore Coniglio, früher selbst Innenstadt-Händler sagt: "Sinsheim war in 53 Jahren nie so chaotisch wie heute"; eine Lösung der Abbruchhaus-Problematik müsse her, "weil die Leute allmählich unruhig" würden.

Gerd Heinrich. Foto: ​tk

Hilmar Zapf und Anette Mayer-Ullmann, Diplom-Ingenieure aus Eschelbronn, glauben, die Fußgängerzone sei "das nächste, das in Sinsheim kommt". Nun gebe es "vielleicht einen Anlass, sich ein passendes Verkehrskonzept zu überlegen". Ein solches Projekt könnte, hofft Mayer-Ullmann, "einen attraktiveren Laden-Mix und mehr Gastronomie nach sich zu ziehen".

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Hintergrund

> Nach der Evakuierung in der Hauptstraße 82 wohnungslos wurde die Familie von Ruslan Ismailov. Der 16-Jährige ist Torwart der B-Jugend des TSV Germania Dühren. Deren Trainer Gerd Heinrich (Foto: Tim Kegel) hat nun einen Aufruf gestartet, setzt alle Hebel

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> Nach der Evakuierung in der Hauptstraße 82 wohnungslos wurde die Familie von Ruslan Ismailov. Der 16-Jährige ist Torwart der B-Jugend des TSV Germania Dühren. Deren Trainer Gerd Heinrich (Foto: Tim Kegel) hat nun einen Aufruf gestartet, setzt alle Hebel in Bewegung, um der aus Aserbaidschan stammenden Familie wieder ein Dach über dem Kopf zu besorgen. Die fünf Familienmitglieder, bis auf Ruslan allesamt Erwachsene und alle berufstätig, sind auf unbestimmte Zeit in einem Ein-Zimmer-Appartement untergebracht; eine Rückkehr in die Hauptstraße 82 sei mehr als ungewiss, schildert Gerd Heinrichs, das Leben auf engstem Raum sei "extrem angespannt". Er hat Radiomeldungen und einen Facebook-Aufruf, der über 200 Mal geteilt wurde, "für diese netten Leute" organisiert, die Heinrich "ein Beispiel für Integration" nennt. Bislang jedoch vergeblich, selbst wenn Hilfe von einigen Innenstadt-Nachbarn kam: So etwa konnte Familie Ismailov ihre Möbel bei Reisebüro-Inhaber Volker Beck unterstellen. Die Ismailovs dürften derzeit nur mit Begleitung der Polizei ins Einsturzhaus gelangen. Heinrichs will sich weiter einsetzen. Gesucht werde eine Vierzimmerwohnung oder größer, bis etwa 1000 Euro Kaltmiete, idealerweise in Sinsheim.

Info: Kontakt über Gerd Heinrich, Ziegelgasse 3, Telefon 0172 / 6226828

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Angetan ist auch Harald Gmelin, Sinsheimer Stadtrat, der am Dienstag seine Runde mit dem Fahrrad durch die Hauptstraße drehte: "Hervorragend" findet er die Atmosphäre im ruhigen Zentrum, wolle "zurzeit aber nicht in der Muth-, Werder- oder Jahnstraße leben". Die Notsituation habe jedoch einen Testlauf ermöglicht, "der uns ansonsten nie genehmigt worden wäre" und dessen Erfahrungswerte man nun zusammentragen könne, sagt Jurist Gmelin.

> Was denken die Händler? "Ein einheitliches Bild gibt’s nicht", sagt Klaus Gaude, Sprecher des Handels im Wirtschaftsforum, allerdings habe man Erfahrungswissen bei Hauptstraßen-Sperrungen an verkaufsoffenen Sonntagen gemacht. Diese seien zwar nicht eins zu eins übertragbar auf die jetzige Situation, sagt Gaude. Allerdings konnten bislang "vor allem Händler mit wenig Platz zur Warenpräsentation" einer Fußgängerzone etwas abgewinnen.

Bei einer Rundfrage der RNZ ergab sich ein gemischtes Bild: Große Schwierigkeiten bei Anlieferungen hat Reinhold Aberle von "Euronics Aberle" in den vergangenen Tagen erlebt. Die Sperrung wirke sich schlecht auf den Zulauf aus, es sei "sehr ruhig". Inzwischen sei die Hauptstraße gut ausgebaut, sagt Aberle. Durchgangsverkehr sei "wichtig für die Wahrnehmbarkeit von Händlern", es gebe "kein Beispiel, wo ein Klein- und Mittelzentrum von einer Fußgängerzone profitiert" habe. Ähnlich klingt Klaus Burkhardt von Foto Burkhardt: "Wenn eine Fußgängerzone kommt", glaubt er, "ist Sinsheim tot".

Etwas anders sieht man es in der Parfümerie Werner: Die "entspannte Ruhe und fehlende Hektik" trage zum Wohlgefühl für Kunden und Personal bei. Die Geschäfte liefen "unverändert". Am Durchgangsweg Kirchplatz/Bahnhofstraße steht Carmen Medini einer Flaniermeile positiv gegenüber: Dann müsse allerdings besser auf Touristen eingegangen werden, auch mittels Ausbau und einer besseren Präsentation der Gastronomie.

Handels-Sprecher Gaude räumt ein, dass die Feuertaufe der Hauptstraße-Sperrung noch nicht eingetreten sei: Noch gab es keine größeren Vorfälle auf der Autobahn A 6 mit Blechlawine im Zentrum. "Erst wenn ein stimmiges Verkehrskonzept auf dem Tisch liegt", sagt Gaude, könnten sich Händler für eine autofreie City erwärmen.

> Was sagt das Rathaus? Baudezernent Tobias Schutz glaubt, dass eine Mehrheit das neue Sinsheim-Gefühl "als gut empfindet". Doch der Ist-Zustand sei "kein Indiz, dass es immer funktioniert". Es sei noch Ferien- und Urlaubszeit, trotzdem gebe es schon jetzt "starken Schleichverkehr in der Gartenstadt", so dass Schutz ein dauerhaftes Durchfahrtsverbot ohne neues Verkehrskonzept für problematisch und nicht umsetzbar hält. Dies nicht zuletzt, da es sich um eine Bundesstraße handle, deren Umwidmung ein aufwendiges Verfahren "mit vielen übergeordneten Beteiligten" sei. Allerdings nennt Schutz die Fußgängerzone in der Hauptstraße "ein mittelfristiges Ziel, das wir weiter verfolgen".

> Freie Fahrt wird es auch am Freitag nicht geben. Zwar soll die Hauptstraße dann wieder für den Verkehr frei gegeben werden, allerdings vorerst einspurig auf Höhe der Baustelle, geregelt mit Ampeln. Bis zur kompletten Freigabe könnten, so Dezernent Tobias Schutz, "gefühlt weitere zwei Wochen vergehen", möglicherweise auch mehr. Denn nach wie vor sei die Situation in der Hauptstraße 82 mehr als unklar.

> An der Baustelle haben Sicherungs- und Gerüstarbeiten im Auftrag der Stadt Sinsheim begonnen. Das Verhältnis zum Gebäudebesitzer sei schwierig. Das Rathaus drängt auf eine Entscheidung: Abriss oder Sanierung; keine leichte Entscheidung, das Haus 82 wurde erst vor kurzem teilsaniert. Allerdings sei, wie man bei Abbrucharbeiten des Nebengebäudes herausfand, eine Wand entfernt worden. Folge waren Statikprobleme, als das Nachbarhaus abgebrochen wurde. "Rechtlich eindeutig", findet Tobias Schutz. Ein Hausherr trage Verantwortung für die Standsicherheit seiner Immobilie. Noch ist mehr als unklar, was passieren wird und ob ein längerer Rechtsstreit ins Haus steht.

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