Bad Rappenau/Eppingen

Ein letztes Mal die Ernte miteingefahren

Agroa-Chef Jürgen Freudenberger tritt kürzer, ist aber noch nicht so recht im Ruhestand angekommen und will nun "Anleihen" begleichen.

17.08.2022 UPDATE: 17.08.2022 06:00 Uhr 4 Minuten, 4 Sekunden
Wirkt entspannt, ist es aber noch nicht: „Ich hasse das Planungsloch, das jetzt auf mich zukommt“, sagt Fast-Ruheständler Jürgen Freudenberger. Foto: Armin Guzy

Von Armin Guzy

Bad Rappenau/Eppingen. Er hat Kohlensäcke geschleppt, Millionen Euro bewegt, zäh verhandelt, Krisen mitverursacht und ihnen getrotzt und auf dem Acker auch mal derben Worten standgehalten. Fünf Enkelkinder aber bringen ihren Einmeterfünfundneunzig-Opa spielend aus dem Gleichgewicht. Sie bringen ihn dazu, Dinge zu tun, die weit weg sind von seinem bisherigen Alltag. Vielleicht führen sie ihn auch zurück auf einen Weg, der immer da war, aber eben oft eher als Parallele zum Berufsleben. Bald-Ruheständler Jürgen Freudenberger sitzt auf der Terrasse, blickt auf den großen Garten, die gepflegten Pflanzen, den Wald dahinter, zeigt das bunt bemalte, gemeinsam mit den Enkeln gebaute große Holzhaus und sagt, er werde jetzt sicher nicht in den Urlaub flüchten. "Aber ich werde mehr Menschen mehr Aufmerksamkeit widmen."

Einer, der aus seinem Abschied ein Ereignis gemacht hätte, hätte wohl "schenken" statt "widmen" gesagt. Und die Raiffeisengenossenschaft Agroa, vormals Kraichgau-Raiffeisenzentrum (KRZ), vormals Kornhaus Sinsheim/Bad Rappenau, hätte ihrem Vorstandssprecher zweifellos einen großen Empfang ausgerichtet. Aber der 63-Jährige erledigte seinen Abschied gewollt unprätentiös: Die mehr als 100 Jahre währende Ära der Familie Freudenberger endete in einer knapp halben von drei Stunden bei der jüngsten Mitgliederversammlung. Auch die Zustimmung für dieses Porträt kam zögerlich, vielleicht, weil das Ergebnis nicht planbar ist. Und er plant doch so gerne.

Arbeiten wird Freudenberger in reduzierter Form "bis nach der Ernte", seit August ruht sein Vorstandsmandat, erst im Dezember ist aber endgültig Schluss. So lange bleiben Laptop und Smartphone griffbereit – wie die vielen Jahre zuvor. Dabei hat der breitschultrige Noch-selbst-Holz-Hacker enorm davon profitiert, dass er auch mit grobem Gerät und schweren Sachen umgehen kann: In jungen Jahren schleppte er Kohlen und Weizensäcke im Lagerhaus; sein Vater Günter, für die CDU politisch auch im Kreistag engagiert, wollte es so. Den Nutzen erkannte der Sohn später: "Schwere Arbeit schafft Akzeptanz" – im landwirtschaftlichen Umfeld sowieso. Und die war für ihn immer wesentlich: "Ohne diese Akzeptanz wäre ich unglücklich, auch wenn meine Bilanz stimmen würde."

Sein Schlüssel dafür: Nicht abgehoben sein, sich Wissen über Saaten und Feldfrüchte, Anbaumethoden und Schädlinge aneignen, durch Zuhören lernen, um nicht nur in Wirtschaftskreisen, sondern auch auf dem Feld als Diskussionspartner zu bestehen. Er war immer gerne draußen, versteht und spricht "die Sprache der Landwirte", kennt ihre Sorgen. "Kunden, Mitglieder, Eigentümer – für mich sind das identische Begriffe." An Menschenkenntnis mangelt es ihm nicht, sich auf individuelle Menschen einzustellen, das war dennoch lange eine Herausforderung.

Freudenbergers Großvater, selbst Landwirt, hatte in den 1920er-Jahren die Genossenschaft mit Zweigstelle in Bad Rappenau gegründet. Das "Kornhaus" kannte damals jeder. Und es wuchs stetig, später unter Freudenbergers Vater. Obwohl der Vater dem ältesten Sohn in vielen Dingen ein Vorbild war, war dessen beruflicher Weg für Freudenberger zunächst eher eine Notlösung: Zur Lehre bei der Bank rang er sich durch, und anders als sein Vater hatte er auch mit Politik nichts am Hut. Heute sieht er Parallelen: "Menschen mitzunehmen, das ist als Politiker und in der Wirtschaft gleich wichtig."

Es folgten: ein wirtschaftswissenschaftliches Studium mit genossenschaftlichem Schwerpunkt, danach die Ausbildung zum Verbandsprüfer. Bis zu seinem "Schicksalsjahr" war der Weg zwar leicht vorgezeichnet, aber es war doch noch alles offen. Dann aber, 1984, starb der Vater überraschend. Im selben Jahr heiratete er seine Frau Ulrike – sie kannten sich schon vom Kindergarten, mochten sich damals aber nicht –, erhielt ein Angebot von Mannesmann, stellte sich in Düsseldorf vor – und seine Frau aß dort ein verdorbenes Muschelgericht. Die folgende, eine Nacht dauernde unerquickliche Erfahrung, in Gedanken untrennbar verknüpft mit der Stadt Düsseldorf, die Heimatverbundenheit seiner geliebten Ulrike, aber wohl auch die nicht so einfach zu ignorierende familiäre Tradition führten schließlich dazu, dass Freudenberger im Kraichgau blieb, mit erst 25 Jahren das Vorstandsmandat seines Vaters angetragen bekam und seinen eigenen Weg fand. Mannesmann existiert längst nicht mehr. "Ich gucke nicht zurück", sagt Freudenberger.

Beim KRZ hat er fast im Zehn-Jahres-Rhythmus drei Fusionen mitgestaltet, zuletzt als Vorstandschef die Fusion des KRZ mit den Genossenschaften Labag und BAG Franken zur Agroa. Die größte Primärgenossenschaft im süddeutschen Raum, eine der 20 größten in ganz Deutschland, hat nun 3200 Mitglieder und macht mit 500 Mitarbeitenden etwa 270 Millionen Euro Jahresumsatz. Dass er nun, nach zwei urlaubslosen Fusionsjahren, geht und keines seiner drei Kinder in seine Fußstapfen tritt, war anfangs schwer. "Man hat Tränen in den Augen", bekennt Freudenberger, "heute aber bin ich froh" (dass die Kinder beruflich etwas anderes machen; Anm. d. Red).

Und dann blickt er doch zurück. Auf 2015 und 2016, als er die Ölpreis-Entwicklung falsch einschätzte, Fehlentscheidungen traf und das KRZ in die Miesen schlidderte. "Das hat wehgetan", sagt er und erzählt von schlaflosen Nächten, wochenlang anhaltend, ja, und auch vom damaligen Gedanken aufzuhören. Der Hundertfuffzigprozentige, der oft Ungeduldige, der Zahlenmensch, der eigentlich rationale Entscheider, der oft um 5 Uhr laufen oder um 6 Uhr zum Frühschwimmen ging, um "diese Zeiteinheiten ins Leben reinzudrücken", dieser Mann sortiert, wie er sagt, am Ende doch "vieles über den Bauch". Erst dann kommt das Betriebswirtschaftliche. Manchmal ist es auch eine Bibelgeschichte, ja selbst eine gute Predigt auf einer Beerdigung: "Ich hole mir auch davon Kraft."

Froh und dankbar ist Freudenberger, dass er in 38 Jahren "nie eine betriebswirtschaftliche Lösung durch aktiven Personalabbau herbeiführen" musste. Und dass er, als zwar selten kirchgehender, aber gläubiger Mensch bei der "Teller-oder-Tank-Diskussion" um Lebensmittel die Balance wahren konnte und die moralische Seite nicht ausgeblendet hat. Zufrieden ist er dennoch nicht – oder nur mit der Situation des Unternehmens. "Mit mir selbst nicht. Es hat zu viele Menschen gegeben, die ich nicht ausreichend berücksichtigt habe."

Und nun? Nordamerika reizt, die endlosen Felder, die überbordende Natur. Seit einiger Zeit stehen auch landwirtschaftliche Fahrzeuge im Kleinformat im Gartenhaus, sehr zur Freude der Enkel. Zeit für ein Hobby oder ein Ehrenamt hatte Freudenberger nie. "Dann müsste ich wieder alles hundertprozentig machen." Und das Tempo beim Spazierengehen ist ihm zu gemütlich. "Noch", sagt er.

Dass das Handy nun viel seltener klingelt, dass er weniger organisieren muss, bekümmert ihn etwas. Manchmal hilft Wäsche falten; um den Rasen kümmert sich ein Mähroboter, und das Kaminholz reicht noch für Jahre. "Ich muss noch lernen, mein Leben nicht mehr so stark auf Produktionseinheiten auszurichten. Ich hasse das Planungsloch, das jetzt auf mich zukommt." Dabei sagt Ulrike Freudenberger doch über ihren Mann: "Er kann aus nichts viel machen – er hat so viele Ideen." Seine "Anleihen" beim Zeitkonto seiner Frau sind in den zurückliegenden Jahren ziemlich gewachsen. "Ich werde nun anfangen, das zurückzubezahlen."

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