"Der Standort ist unglaublich international"
Der Verlag Wiley-VCH feiert 100. Geburtstag. Der Geschäftsführer Guido F. Herrmann erklärt, was die rund 400 Mitarbeiter in Weinheim leisten.

Von Philipp Weber
Weinheim. Er sucht selten die Öffentlichkeit, dabei kann er sich sehen lassen: Mit 400 internationalen Mitarbeitern am Standort Weinheim ist der Verlag Wiley-VCH einer der größten Arbeitgeber der Stadt. Zu seinem 100. Geburtstag hat Deutschland-Geschäftsführer Dr. Guido F. Herrmann der RNZ ein Interview gegeben. Darin erklärt er, wie der Verlag vom Gründungsort Leipzig nach Weinheim gekommen ist – und wie er unter dem Dach des US-Unternehmens Wiley den Sprung in die Digitalisierung gemeistert hat. Die größten Schritte in Richtung Wissenschaft 4.0 stehen indes noch bevor.
Herr Herrmann, wie kommt der frühere Verlag Chemie und damit einer der wichtigsten Wissenschaftsverlage überhaupt nach Weinheim? Hat es mit anderen dort ansässigen Unternehmen zu tun?
Nein, das hat geschichtliche Gründe. Das Unternehmen wurde 1921 in Leipzig gegründet, das war damals die Verlagshauptstadt Deutschlands schlechthin. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Umzug in den Westen notwendig. Über Eisfeld in Thüringen ging es weiter nach Heidelberg. Schließlich ließ sich das Unternehmen in Weinheim nieder. Der Standort ist nicht weit entfernt von der Gesellschaft Deutscher Chemiker, die in Frankfurt am Main sitzt. Die großen europäischen Universitätsstandorte sind ebenfalls in Reichweite, ebenso wie der Flughafen in Frankfurt. Ein Vorteil nach dem Zweiten Weltkrieg war die Tatsache, dass Weinheim dauerhaft in der US-Besatzungszone lag. Die US-Bezirksregierung ermöglichte 1947 durch die Erteilung einer Lizenz, dass der Verlag wieder als solcher tätig sein durfte.

Der Verlagscampus liegt heute in der Boschstraße, in einem Gewerbegebiet. War er dort schon immer?
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Nein, zunächst hatte der Verlag eine Bleibe in der Bahnhofstraße gefunden. Dann erfolgte der Umzug in die Weststadt, wo bis 2002 die Gebäude einer ehemaligen Süßwarenfabrik in der Pappelallee genutzt wurden. Heute stehen dort Wohnungen. Schon 1970 haben wir das Grundstück in der Boschstraße erworben und bebaut und ab 2000 erweitert, seit 2002 fühlen wir uns alle an einem Standort sehr wohl. Zu Ihrer ersten Frage: Es gibt Berührungspunkte zu den anderen Weinheimer Unternehmen, wenn auch keine direkten Kontakte. In jedem Falle tragen bekannte Unternehmen wie Freudenberg ebenso zur Attraktivität des Standorts bei wie schöne Orte, zum Beispiel der Marktplatz.
Warum ist der Verlag mit seiner deutsch-deutschen Geschichte heute unter dem Dach von Wiley?
Der VCH wurde seinerzeit von der Gesellschaft Deutscher Chemiker und weiteren Partnern aus der Taufe gehoben. Bis heute ist die Bindung eng, es besteht praktisch ein täglicher Austausch. Ein weiterer Partner war die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft. In den 1990er-Jahren standen im Zuge einer zunehmenden Internationalisierung und Digitalisierung in der Wissenschaft auch im Verlagswesen strategische Überlegungen an. Wiley erwies sich als hervorragender Partner, um in diesen fortwährenden Prozessen bestehen zu können.
Was genau tut denn der Verlag Wiley-VCH in Weinheim?
An unseren Standorten in Weinheim und in Berlin liegt ein starker Schwerpunkt auf Angewandter Wissenschaft und Grundlagenforschung. Unter unserem Dach werden 1600 Fachzeitschriften publiziert. Darunter sind einige der wichtigsten Zeitschriftentitel, etwa der Titel "Angewandte Chemie". Den gibt es übrigens schon seit 125 Jahren. Ebenso bekannt ist der Titel "Advanced Materials". Mit der 60.000 Mitglieder zählenden Deutschen Physikalischen Gesellschaft publizieren wir zudem das "Physik Journal". Großen Einfluss besitzt auch der Titel "Chemistry – A European Journal", der europaweit 300.000 forschende Mitglieder erreicht. In Weinheim spielen darüber hinaus Titel eine Rolle, die den Forschungsstand in den Angewandten Wissenschaften abbilden – und damit für Führungskräfte interessant sind, darunter der Titel "CheManager". Unter unserem Dach befindet sich zum Beispiel auch die Marke GIT (Verlag Gas, Instrumenten, Technik), über die der wissenschaftliche Austausch zu Labortechnik und Laborsicherheit läuft.
Was kann man sich denn unter Titeln wie "Advanced Materials" als Laie konkret vorstellen?
Es geht dabei um Materialwissenschaften. Darunter können Sie sich zum Beispiel moderne Batterien vorstellen. Oder Materialien, die bei der Gewinnung von Sonnenenergie eine Rolle spielen. Bei der Forschung zu sogenannten Intelligenten Materialien werden die Grundlagen ebenfalls von Weinheim aus publiziert, das sind zum Beispiel Materialien, die auf Temperaturen regieren und unter anderem die Sensorik von Robotern betreffen.
Und was konkret tragen die Mitarbeiter am Standort Weinheim bei?
In Weinheim passiert alles, was eine Zeitschrift zum Leben erweckt. Bei Neugründungen müssen wir Herausgeber finden, Autoren suchen, ein Peer-Review aufbauen, also eine wissenschaftliche Qualitätssicherung. Und dann müssen wir die Zeitschriften an die Forscherin oder den Forscher bringen. Das läuft heute fast ausschließlich über digitale Kanäle. Um die Zeitschriften herum organisieren wir Symposien, um den Dialog vor Ort zu fördern. Bei unseren rund 400 Mitarbeitenden handelt es sich um wissenschaftlich geschulte, oftmals promovierte Kräfte.
Und diese Menschen arbeiten alle am Standort Weinheim?
Ja, der Standort ist unglaublich international. Wir haben Kollegen aus vielen verschiedenen Ländern, die über die ganze Region verteilt leben. Viele wohnen im Raum Heidelberg, aber auch in Mannheim und eben hier in Weinheim. Sie nützen unserem Unternehmen, weil sie die wissenschaftlichen Strukturen in ihren Ländern kennen und Zugang zu den dortigen Akteuren haben.
Sie sagten, die Fachzeitschriften werden heute in digitaler Form publiziert. Produziert der Verlag denn auch noch klassische Bücher?
Als Wissenschaftsverlag bietet man Zeitschriften an, in denen aktuelle Forschungsergebnisse zur Diskussion gestellt werden. Ebenso veröffentlichen wir aber auch Lehrbücher, die konsolidiertes Wissen vermitteln. Wir haben aber auch Standardwerke, um die Studierende bestimmter Fachrichtungen kaum herumkommen. In den Wirtschaftswissenschaften sind das die International Financial Reporting Standards (IFRS), die 1500 Seiten schwer und inzwischen in der 15. Auflage erschienen sind. Standardlehrbücher wie zum Beispiel der "Halliday" in der Physik sowie in der Chemie der "Vollhardt" gehören ebenfalls zu unserer Produktpalette.
Viele kennen Ihren Verlag vermutlich wegen der Für-Dummies-Serie.
Das ist ein sehr bekanntes Programm, das sich nicht nur an Hobby- und Freizeitleser richtet. Das geht von Deutscher Geschichte über Sport im Homeoffice bis hin zu Schachtaktiken. Es ist ein populärwissenschaftliches Programm, aber die Fakten sind streng geprüft. Inzwischen ergänzen auch Lehrbücher dieses Programm. Leser können sich dort schnell und gezielt informieren. Viele der Ausgaben sind Übersetzungen aus dem Englischen, es gibt aber auch sehr erfolgreiche Beiträge aus Deutschland, zum Beispiel "Börse für Dummies".
Kann man sagen, dass die Digitalisierung im wissenschaftlich ausgerichteten Verlagswesen abgeschlossen ist? Gedruckte Zeitschriften scheint es ja kaum noch zu geben.
Was die Produktion und den Vertrieb betrifft, ist die Digitalisierung in der Tat abgeschlossen. Die Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte besteht in der Vernetzung von Wissenschaftlern über digitale Kanäle. Die Kooperation wird über internationale Plattformen stattfinden, und hierbei ist Wiley ein zentraler Partner. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Forschungsprogramm "Horizon Europe", das die EU-Kommission aufgelegt hat. Der barrierefreie Zugang zu Informationen ist Kern dieser Forschungspolitik. Investitionen in diese Form von Infrastruktur zu tätigen wird indes eine noch größere Herausforderung als die Digitalisierung seit dem Jahr 1996.



