Konzertreihe will mit zeitlosen Visionen verblüffen
"Walldorfer Musiktage" von 23. September bis 10. Oktober - Die Besonderheit: "Song of the Earth" nach einem Gedicht von Kurt Klein

Von Sebastian Lerche
Walldorf. In einer kuriosen Situation befanden sich Timo Jouko Herrmann, Konzertbeauftragter der Stadt Walldorf, und Erster Beigeordneter Otto Steinmann: Sie informierten nämlich in einem zweiten Pressegespräch über die gleiche Konzertreihe, die "Walldorfer Musiktage", die 2020 wegen der Coronapandemie ausfallen mussten.
"Seit 12 oder sogar 15 Monaten waren solche Konzerte nicht möglich, jetzt freuen wir uns und sind guter Hoffnung, dass die Musiktage dieses Jahr stattfinden können", so Steinmann. Man beschränke sich diesmal auf Rathaus und Astoria-Halle, um die Coronaregeln möglichst einzuhalten. Herrmann betonte, man habe sich bemüht, dieselben Künstlerinnen und Künstler wieder zu gewinnen, die es ja in der Coronazeit sicher nicht leicht gehabt hätten, "damit zeigt Walldorf seine Verlässlichkeit".
Das Motto der Musiktage ist nach wie vor "Visionen", so Herrmann. Vergangenheits- und Zukunftsvisionen umfasst das Programm, eigentlich passend zum vergangenen Jahr, als Walldorf sein Stadtjubiläum zum 1250-jährigen Bestehen hatte feiern wollen. Insofern widmet sich die Konzertreihe "revolutionären Gattungen, neuen kompositorischen Ideen", dem Aufeinandertreffen von Klängen aus ganz unterschiedlichen Epochen, zeitlosen Werken, die, obwohl über 100 Jahre alt, immer noch verblüffend fortschrittlich klingen, sowie auch ganz alten, ganz neuen und scheinbar aus der Zukunft stammenden Instrumenten.
Zum Auftakt der Musiktage zelebriert das "Duo Gambelin" am 23. September die Kontraste, wie Herrmann erläuterte. Mit Viola da Gamba (Gambe) sowie Bassklarinette und Sopransaxofon erklingen Instrumente gemeinsam, die in ihrer Entwicklung Jahrhunderte auseinander liegen und sich historisch nie begegnet wären. Lucile Boulanger und Christian Elin kombinieren zudem musikalische Stile, zwischen denen drei Jahrhunderte Musikgeschichte liegen. Elin, der auch Komponist ist, bietet ein eigenes zeitgenössisches Werk, "das den besonderen Klang der Instrumente zur Geltung bringt, mal archaisch, mal fetzig". Zudem lassen sich, was die Improvisationslust angeht, erstaunliche Parallelen zwischen Frühbarock und Jazz entdecken.
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Ein "Schlüsselwerk der musikalischen Moderne", das bei seiner Erstaufführung 1912 für Aufruhr und Proteste sorgte, bietet das Schönberg-Sextett aus Stuttgart am 25. September: "Pierrot Lunaire" von Arnold Schönberg. Bis heute wirke das Werk faszinierend, so Herrmann: "Es bricht mit allen Konventionen." Neben farbenreichen Klangkombinationen ist es Herrmann zufolge vor allem die damals völlig neuartige Vermischung von Sprech- und Singstimme, die bis heute begeistert. Gedichte von Albert Giraud werden dabei rezitiert, die ihrerseits mit modernen und dadaistischen Elementen alte Denkmuster herausfordern. Überdies kann das Publikum beim Konzert die avantgardistischen Klänge Leonard Bernsteins neu entdecken, der weit mehr zu bieten hat als "West Side Story".
"Glasmusik" ist am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit, zu hören, so Herrmann. Die unwirkliche Klangwirkung von Trinkgläsern, die mit dem feuchten Finger angestrichen werden, hat die Menschen schon immer in Bann geschlagen – mal wurde ihr ein erotisierender Effekt nachgesagt, mal ein zerrüttender Einfluss auf Körper und vor allem Geist. Erst in den 1980er Jahren entstand ein professionelles Instrument, das "Verrophon", auch Glasharmonika genannt, das diese Klänge mehrstimmig erzeugt. Andrés Bertomeu ist Herrmann zufolge einer der wenigen, die das Verrophon beherrschen, europaweit aktiv und "unglaublich virtuos".
Der Kontrabass, einst untergeordneter Begleiter, wurde durch visionäre Komponisten aus Italien im 19. und frühen 20. Jahrhundert entfesselt, in den Fokus gerückt und dank neuer Spieltechniken mit ungeahnter Eigenständigkeit versehen: Am 7. Oktober lässt Alexis Scharff vom Kurpfälzischen Kammerorchester diese neuen Ausdruckswelten mit "Vision d’Italie" zur Geltung kommen.
Das Finale der diesjährigen Musiktage bildet ein ganz besonderes Werk, das 2020 noch nicht vorgesehen war: "Song of the Earth" am 10. Oktober. Timo Herrmann selbst hat es verfasst, es basiert auf einem Gedicht von Kurt Klein. Der berühmte Sohn der Stadt Walldorf, der im letzten Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, aber 2002 verstarb, floh 1937 vor den Nationalsozialisten in die USA. Er kehrte als amerikanischer Soldat zurück und verhörte Kriegsgefangene. Er wurde auch zum Retter Oskar Schindlers, jenes Manns, der 1200 Juden vor dem sicheren Tod bewahrte.
Kleins Eltern aber wurden in Auschwitz ermordet. In Erinnerung an sie schrieb er das Gedicht "Song of the Earth", dessen Titel auf Gustav Mahlers "Lied von der Erde" anspielt, so Herrmann. Es ist eine sehr persönliche Meditation auf das letzte Foto, das Klein von seinen Eltern hat – "sie sitzen am Frühstückstisch und trinken Kaffee, eine ganz alltägliche Szene". Für die Umsetzung des Kompositionsprojekts wurde Herrmann vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg mit einem Stipendium gefördert.



