Peter Stamm hat die Menschen studiert
"Flaneure & Flaneusen": Beim gut besuchten Spaziergang mit dem Schweizer Autor wurde auch im "Kleiderklatsch" gelesen.

Von Silke Beckmann
Ladenburg. Sein 1998 erschienenes Debüt "Agnes" wurde zur Abitur-Pflichtlektüre in Baden-Württemberg, ihm folgten weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Nun war der mehrfach preisgekrönte Schweizer Schriftsteller Peter Stamm im Verlauf der Reihe "Flaneure & Flaneusen" zu Gast in Ladenburg. Beim literarischen Spaziergang mit großer Gästeschar sprach er über seinen jüngsten Roman "In einer dunkelblauen Stunde", ließ sich von den Moderatorinnen Carolin Callies und Kristin Wolz aber auch Gedanken zur Sinnhaftigkeit und zu Themenschwerpunkten des Schreibens sowie einen überraschenden literarischen Spoiler entlocken.
Es war eine kurzweilige Veranstaltung. Der sympathische Autor antwortete stets bedacht, aber durchaus mit Humor, und so gab es für die mit Funkkopfhörern ausgestatteten "Mitläufer" immer wieder einiges zu lachen. Von Ermüdungserscheinungen nach insgesamt fast 2000 Lesungen keine Spur: "Ich mach’s gern, es macht mir Spaß", so Stamm.

Auch die Lesestation war ganz neu im Programm: Andrea Kersebohm und Jasmin Fakhani hatten eigens ihr Café "Kleiderklatsch", wo Peter Stamm aus dem Fenster heraus Passagen las, länger geöffnet, und auch nach Abschluss bestand dort die Möglichkeit, den später allerdings ausgesprochen stürmisch-nassen Abend ausklingen zu lassen.
Seine Studienfächer, nämlich Anglistik, Psychologie und Psychopathologie, hatte Stamm einst in Hinblick aufs Schreiben gewählt, bald aber gemerkt: "Ich muss Menschen studieren." Zuvor, in der Schulzeit, war das Lesen sein großer Favorit – und groß das Erstaunen, dass es nicht allen so ging. Allerdings habe man die Schüler "oft lange mit den Büchern gequält", es hätte seiner Ansicht nach insgesamt mehr Lektüren geben sollen.
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Was nun seine "Dunkelblaue Stunde" anbelangt, bekannte der Autor, an der derzeit vielfach geschriebenen autofiktionalen Literatur wenig Interesse zu haben. Insofern habe er in das Werk zwar Episoden seines Lebens übernommen, "aber nicht mein Leben erzählt". Thematisch geht es um das Scheitern des Films, den Filmemacherin Andrea über den Schriftsteller Richard Wechsler drehen möchte. Der aber nur wenig von sich preisgibt, allenfalls vertraulich innerhalb besagter dunkelblauer Stunden, "off the record", sodass Andrea sich eigenmächtig auf Spurensuche begibt und dadurch Wechslers Jugendliebe Judith kennenlernt. Der Protagonisten-Schwerpunkt verschiebt sich.
"Wir müssen spoilern", entschied Stamm und verriet: Wechsler, irgendwann des Films müde, "stirbt dann einfach". Und schob verblüffend ehrlich hinterher: "Ich war so froh, dass mir das eingefallen ist." Der Tod der Hauptfigur sei immer eine Herausforderung – aber nur so konnte es weitergehen.
Befragt, welche seiner Figuren er lieber möge, brauchte der Autor nicht lange nachzudenken: "Ganz sicher nicht Wechsler – eher die beiden Frauen." Ob in Andrea, die ja manchmal etwas kratzbürstig sei, ein bisschen Autor drinstecke, "der in der Figur mal sagen kann, was er denkt", wollte Wolz wissen. Es sei schon so, dass eine Figur sich beim Schreiben entwickelt, erklärte Stamm: "Woher das kommt, muss ich gar nicht wissen." Er lerne sie eigentlich erst beim Schreiben kennen und spüre dann, "ob sie lebendig ist". Die von Callies aufs Tapet gebrachte "Sinnfrage des Schreibens" stelle er sich gar nicht so oft: "Es ist ein schönes, unheimlich privilegiertes Leben." Indem er immer um dieselben Themen kreise?, hakte Wolz nach. Das, glaubt Stamm, täten alle ernsthaften Autoren. Es gebe schließlich nur wenige Lebensbereiche, darunter eben auch Liebesbeziehungen, die starke Gefühle auslösen.
Er erwähnte in diesem Zusammenhang sein ebenfalls Interaktion thematisierendes Projekt mit dem Titel "Alleinsein ist wie nicht mehr sein". Man ändere sich immer, werde von Orten, dem Wetter, anderen Menschen beeinflusst: "Vielleicht entstehen Menschen überhaupt erst im Austausch mit anderen." Mit der Frage der Identität hatte er sich schon vor Jahrzehnten in "Agnes" befasst. "Sie haben es gemerkt", brachte Callies es abschließend auf den Punkt: "Es geht nicht nur um den Plot, sondern um ganz vieles mehr."