Der schwarze Turm schützt Lebendiges
Mit ihrer Installation gelangte Claudia Urlaß in die engere Wahl des Walldorfer Kunstpreises

Mathematisch exakt durchkonstruiert, dennoch lebendig und ein Refugium für die Natur: der "Turm (garten)" der Wieslocher Künstlerin Claudia Urlaß. Foto: Pfeifer
Walldorf. (seb) Das Spiel mit der Wahrnehmung ist gelungen: Von fern ist der Kubus aus schwarzen Dachlatten praktisch durchsichtig, wirkt leicht und schwebend, während der optische Effekt der sich überkreuzenden Linien, gerade wenn man sich bewegt, für ein wellenförmiges Irisieren sorgt ... und dann geht der Betrachter näher heran, der Blickwinkel wird steiler, die Holzbretter statt ihrer Zwischenräume dominieren das Sichtfeld und plötzlich steht man vor einem schwarzen, opaken Kasten.
Mit ihrem "Turm(garten)" ist die Wieslocher Künstlerin Claudia Urlaß in die engere Wahl des Walldorfer Kunstpreises gelangt, ihre Arbeit steht auf einer Grünfläche an der Umgehungsstraße B 291 in Richtung Ikea. Für mathematisch exakt konstruierte Grafiken und Objekte ist sie bekannt, beispielsweise hat sie für die "Bürgerstiftung Kunst für Wiesloch" zwei Bildtafeln gestaltet, die nun vor den neuen Wohngebäuden in der Schwetzinger Straße stehen. Hier folgen Linien sehr strengen formalen Regeln, und doch entsteht eine Art lebhaftes, beinah greifbares Gewebe. Auch ihr "Turm(garten)" wird im Auge des Betrachters, der herumgeht oder auch hinkniet, zu etwas Lebendigem - und viel wichtiger: Er schützt etwas Lebendiges.
Wie Walldorfs Kunstbeauftragter Hartmuth Schweizer erklärt, wird die Grünfläche an dieser viel befahrenen Straße selbstverständlich regelmäßig gepflegt und kurz gehalten, sie steht freilich auch Passanten offen. Der "Turm(garten)" jedoch bildet ein Refugium, das trotz oder gerade wegen seiner scheinbar einfachen, zurückhaltenden Gestaltung ideale Bedingungen bietet: Er lässt jede Menge Licht durch, ist aber zugleich eine Barriere beispielsweise für größere Tiere. Von fern mag man hineinsehen können, erkennbar ist aber wenig, und von Nahem wird es schwierig, das Innere auszumachen. Und das heißt Pflanzenarten, die sonst auf stärker frequentierten städtischen Grünflächen keine Chance hätten, können sich hier entfalten.
So stellen die je zwei auf zwei Meter großen "Wände" eine Grenze zwischen Kultur und Natur dar, der "Turm(garten)" entpuppt sich als Reflexion dieses Spannungsfelds. Der Innenraum ist ein "Sanctuarium", in ihm darf alles unbeeinflusst - und praktisch unsichtbar - gedeihen. "Wenn man etwas sehen will, muss man sich niederknien", so Schweizer, "man muss vor der Natur auf die Knie gehen. Diesen Aspekt hat Claudia Urlaß ausdrücklich mit hineingedacht."
Als "konkrete Kunst" identifiziert Hartmuth Schweizer die Installation: Sie basiert auf mathematischen Prinzipien, die ihre Rolle beim Ausgleich von Gegensätzen, beim Etablieren einer Balance, ganz greifbar spielen. Urlaß spielt regelmäßig auf Gesetzmäßigkeiten an, die überall in der Natur herrschen, wie beispielsweise der "Goldene Schnitt", der der Gehäuse-Spirale eines Perlboots zugrunde liegt, oder nach dem italienischen Mathematiker benannte Fibonacci-Folgen, die die Platzierung von Sonnenblumenkernen in der Blüte beschreiben. Anstatt also Gegenständliches zu abstrahieren, gibt die Künstlerin Geistigem Gestalt, so Schweizer, "in der Tradition Platons, der meinte, es ist die Zahl, was den Kosmos erklären kann, was Wahrheit und Schönheit definiert". Hinzu kommen beim "Turm(garten)" die irritierend-irrisierenden Effekte als Elemente der "Op-Art".
Für Schweizer gehört ein solcher interdisziplinärer Ansatz, wenn Arbeiten wie hier Wahrnehmung, Wissenschaft und (Umwelt-)Politik ansprechen, fest zur zeitgenössischen Kunst. "Aber ich denke, dieses Werk wird am meisten unterschätzt", so Schweizer in einer Gesamtbetrachtung der elf Skulpturen in der engeren Wahl des Wettbewerbs, "es ist sicher eine der unspektakulärsten und dabei spannendsten Arbeiten". Womöglich ein Markenzeichen der 1984 in Heidelberg geborenen Künstlerin, die zunächst auf das Lehramt an Realschulen Kunst, Physik und Mathematik studierte, anschließend, ab 2009, aber ihr Diplom an der Kunstakademie Karlsruhe erwarb und Meisterschülerin von Prof. Silvia Bächli und Michel Gholam war.




