Erste "Dorf Pride" in Mühlhausen (plus Fotogalerie)
Mit Musik, Redebeiträgen und 500 Teilnehmern für mehr Toleranz für queere Menschen.

Von Klara Gaßner
Mühlhausen. Manhattan, Madrid, München – und jetzt Mühlhausen mit seinen 8500 Einwohnern: Überall wird "Pride" gefeiert, eine Parade und Demonstration für die Rechte von LSBTTIQ-Personen. Das sind alle, die in ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität von dem abweichen, was die Gesellschaft zu einer "Norm" erhoben hat. Das Abkürzungsungetüm steht für Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle sowie Transgender-Personen, bei denen das biologische Geschlecht nicht mit der Geschlechtsidentität übereinstimmt. Kurz gesagt also Menschen, die sich "queer", gewissermaßen "quer zur Norm" fühlen.
Hintergrund
Dyke ist ein englischer Begriff, der ursprünglich eine Beschimpfung für frauenliebende Frauen war. Vergleichbar ist Dyke im Deutschen mit der Stigmatisierung als "Kampflesbe" für lesbische und feministische, und besonders für als in ihrem Auftreten maskulin
Dyke ist ein englischer Begriff, der ursprünglich eine Beschimpfung für frauenliebende Frauen war. Vergleichbar ist Dyke im Deutschen mit der Stigmatisierung als "Kampflesbe" für lesbische und feministische, und besonders für als in ihrem Auftreten maskulin wahrgenommene Frauen. Trotz der Anfeindung hat sich die lesbisch-feministische Community den Begriff positiv angeeignet.
Queer nennen sich häufig Menschen, die von der heterosexuellen oder der zweigeschlechtlichen Norm abweichen. Der Begriff ist bewusst vage gehalten, weil er somit erlaubt, auf nähere Abgrenzungen und Definitionen weitgehend zu verzichten.
Heteronormativität wird manchmal auch als "Zwangsheterosexualität" beschrieben. Dieser zentrale Begriff der Queer-Theorie problematisiert die Tatsache, dass große Teile der Gesellschaft nur heterosexuelle Beziehungen zwischen Mann und Frau als normal empfinden. Queer-Aktivisten kritisieren, dass dabei das biologische Geschlecht mit der Geschlechtsidentität, der Geschlechtsrolle und der sexuellen Orientierung gleichgesetzt wird – und zwar für alle. Dadurch werden viele Menschen diskriminiert, die nicht in das heteronormative Raster passen.
LGBT oder LSBTTIQ: LGBT steht für die englischen Begriffe Lesbian (lesbisch), Gay (schwul), Bi (bisexuell) und Trans. Manchmal ist auch die Rede von LSBTTIQ, was dann lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer meint.
Intersexualität: Bei intersexuellen Menschen sind nicht alle geschlechtsbestimmenden Merkmale wie Chromosomen, Hormone und Geschlechtsorgane biologisch eindeutig nur einem Geschlecht zuzuordnen. Sie verfügen - vollständig oder teilweise - über männliche und weibliche Merkmale. Ein anderer, alter Begriff ist Zwitter. Das lateinische "inter" bedeutet unter anderem "zwischen".
Transgender: Umfasst meist all jene, deren soziales Geschlecht nicht - oder nicht immer - mit dem biologischen identisch ist. Nicht jeder Transgender-Mensch möchte jedoch seinen Körper so verändern, wie es viele Transsexuelle wollen. Um die verschiedenen Gruppen zusammenzufassen, wird manchmal als Oberbegriff einfach die Vorsilbe mit einem Stern verwendet: Trans*. Das soll Offenheit signalisieren und auf die Vielfalt von Selbstbildern hinweisen, die im Laufe eines Lebens wechseln können. Manche reden hier von transgeschlechtlichen Menschen.
Transsexualität: Bezeichnet das starke Gefühl, mit dem "falschen" Geschlecht auf die Welt gekommen zu sein. Den Betroffenen ist es oft ein Bedürfnis, ihren Körper mit Hormonen oder mit Operationen dem bevorzugten Geschlecht anzugleichen. Die US-Amerikanerin Caitlyn Jenner (66), früher männlich Bruce, ist die derzeit wohl bekannteste Transsexuelle.
Queer: Das Wort aus dem Englischen wird sehr unterschiedlich übersetzt: eigenartig, verquer, schwul - teils auch als Schimpfwort. Politisch wurde es in den USA zum Dachbegriff für verschiedene Randgruppen. Bei uns fasst das Wort queer heute oft viele Menschen zusammen, die ihre Identität, ihre Sexualität oder beides als abweichend von der Mann-Frau-Norm empfinden. Das kann auch Asexualität, Menschen in mehr als einer Partnerschaft und solche, die zwischen Geschlechterrollen wechseln, einbeziehen.
Cis-Menschen/Cisgender: Wer sich mit dem Geschlecht identifiziert, das ihm bei Geburt zugewiesen wurde, wird Cis-Mensch genannt. Dies trifft auf den weitaus größten Teil der Bevölkerung zu. Das lateinische "cis" bedeutet "diesseits" - als Gegenwort zu "trans", "jenseits" und "über".
Transvestit: Menschen, die das Bedürfnis haben, immer mal wieder für längere oder kürzere Zeit in die Kleidung des anderen Geschlechts zu schlüpfen. Auch Haare, Accessoires und Bewegungsstil passen sie an - und zwar im Bewusstsein, diesem Geschlecht nicht anzugehören.
Travestiekünstler/Drag Queen: Männer, die zum Spaß oder zur Unterhaltung Frauenkleidung tragen und dies besonders exaltiert tun. Künstler wollen so für mehr Offenheit und Toleranz werben. Berühmt ist etwa die österreichische Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2014, die Drag Queen Conchita Wurst, verkörpert von Tom Neuwirth (27). rie/dpa
Diese Menschen gibt es auf dem Dorf genau wie in der Stadt und auch dort "werden wir bedroht und diffamiert", erklärte Simona Maier, die selbst aufgrund ihrer Geschlechtsidentität schon mit Anfeindungen zu kämpfen hatte. Eben solche Angriffe bewegten die Weinprinzessin und Gemeinderätin, als eine der Hauptorganisatorinnen die erste "Dorf Pride" am vergangenen Sonntag in Mühlhausen zu organisieren. Denn "niemand soll wegziehen, in die Anonymität der großen Städte fliehen müssen", so Maier. Es soll Solidarität gezeigt werden, nicht nur in langen Paraden in Großstädten.
Die Idee für die Demonstration kam spontan, nur wenige Wochen vorher, doch die vielen freiwilligen Helfer schafften es mit der Unterstützung von den Grünen und der SPD sowie Organisationen wie dem CSD-Rhein-Neckar, dem Queeren Netzwerk Heidelberg oder der Aids-Hilfe Heidelberg, eine einzigartige Demonstration auf die Beine zu stellen. Vor dem Start der Parade begrüßte unter anderem Bürgermeister Jens Spanberger zusammen mit seiner Stellvertreterin Martina Krause die Demonstranten und zeigte seine Unterstützung.

Und so zogen laut Polizei rund 500 Menschen durch die Mühlhäuser Hauptstraße in Richtung Rathausplatz. Ob Ältere oder Jüngere, Rollstuhlfahrer oder Kinder, die Teilnehmer waren nicht nur dank der Regenbogenflagge bunt, dem Erkennungszeichen der LGBTTIQ-Bewegung. Einige trugen Plakate mit farbenfrohen Lettern bei sich, die Gleichberechtigung fordern, überall leuchteten Regenbogen und aus den Fahrzeugen, die die Demonstranten begleiteten, dröhnte laute Pop-Musik. Ein ungewohntes Bild im kleinen Ort, das viele Einwohner auf die Straße und an die Fenster lockte. Senioren im Rollstuhl, eine muslimische Familie und Hobbygärtner in ihren Vorgärten winkten, tanzten, freuten sich über die bunte Menge. Immer wieder zeigten die Zuschauer beide Daumen nach oben.
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Die Mitglieder des Organisationsteams leisteten derweil ganze Arbeit, um den Beobachtern zu erklären, was vor sich ging, und verteilten Flugblätter an Eltern und Erwachsene, bunte Regenbogenflaggen gab es für zusehende Kinder. Das Konzept ging auf und die Begeisterung der Teilnehmer sprang über: "Wir haben noch Sonntagnacht Nachrichten bekommen, in denen sich Teilnehmer bedankt haben", erzählte Johanna Illgner, eine weitere Initiatorin. Wenn das Organisationsteam nicht damit beschäftigt war, Flyer zu verteilen, mahnte es, die Alltagsmasken richtig zu tragen und den Abstand zu wahren, was trotz der großen Menge gut klappte.

Die Demonstration sei dringend notwendig gewesen, um auf bestehende Probleme aufmerksam zu machen, meinte Illgner: Eine Beratungsstelle für queere Menschen beispielsweise sei eben nicht nur "nice to have" ("nett und schön zu haben"), sondern könne Menschenleben retten. Auch bei der Zwischenkundgebung auf dem Mühlhäuser Rathausplatz, bei der Mitglieder der SPD und der Grünen sowie Gleichstellungsbeauftragte von Heidelberg und Mannheim sprachen, wurden solche Forderungen laut. Unter anderem kritisierte man die systematische Unterdrückung von Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern sowie das teilweise Blutspendeverbot für bi- und homosexuelle Männer. Zudem wurden Angebote für queere Jugendliche oder die Aufnahme der sexuellen Identität in den Antidiskriminierungsartikel des Grundgesetzes gefordert. Die Solidarität auf dem Dorf, gerade für queere Kinder und Jugendliche, sei wichtig, hieß es: Denn sie könnten nicht "einfach" in die nächste Stadt ziehen.
Hermino Katzenstein, Landtagsabgeordneter der Grünen, erinnerte an die Verantwortung der Politik bei diesen Fragen, betonte aber auch, wie wichtig der Beistand der Bevölkerung sei, der mit Aktionen wie "Dorf Pride" sichtbar werde. Auch die anderen Sprecher betonten die Wichtigkeit der Präsenz der "queeren" Demonstranten und aller anwesenden Unterstützer. Der Konsens der Redner: Es gibt noch viel zu tun, aber "Dorf Pride" ist ein sehr guter Anfang.
Dass die Demonstration ein voller Erfolg gewesen sei, darüber waren sich alle einig. Für Dagmar und Bernd Himmelsbach aus Mühlhausen, die "selbstverständlich" zur Demo gekommen sind, völlig klar: "Die Aktion ist richtig wichtig für Mühlhausen. So bekommen wir mehr Farbe ins Dorf!" Und auch Organisatorin Simona Maier zeigte sich "noch ganz überwältigt von der Resonanz". Es sei "ein Wahnsinnsgefühl" eine solch friedliche, gut besuchte "Pride" in der Heimat feiern zu können. Ein Erlebnis, das bald jedes Jahrs stattfinden könnte, nicht nur in Mühlhausen, sondern auch in umliegenden Gemeinden. Sodass sich auch diese in die Welle der Solidarität einreihen können.