Walldorfer Zeltspektakel

Jess Jochimsen legt den Finger in die Wunden der Zeit

Kabarettist präsentierte Programm "Heute wegen gestern geschlossen" - Feinsinnig und unaufgeregt seziert er bundesdeutsche Wirklichkeit zwischen Fußball, Tatort und Volksmusik

09.09.2019 UPDATE: 10.09.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 18 Sekunden

Weit entfernt von lauten Schenkelklopfer-Kalauern: Jess Jochimsen in der Zeltspektakel-Manege. Foto: Kerstin von Splényi

Von Kerstin von Splényi

Walldorf. Ein Kleinod der deutschen Kabarettszene war mit Jess Jochimsen beim Walldorfer Zeltspektakel zu erleben. Jochimsen, bekannt aus "Scheibenwischer", "Quatsch Comedy Club" und in diesem Frühjahr auch aus der "Anstalt", fühlte der Befindlichkeit der deutschen Republik mit leisem, teils melancholischem Humor auf den Zahn.

Sein Aufruf: "Wir müssen wieder lernen, die richtigen Fragen zu stellen", zog sich wie ein roter Faden durch den gesamten Abend. Weil gestern alles zu viel war, ist seine Stammkneipe "Heute wegen gestern geschlossen" (so der Programmtitel). Zeit sich zu besinnen, zurückzulehnen und alles zuzusperren? Der Wahl-Freiburger analysierte mit punktgenauer Gesellschaftskritik, woher sie kommt, die deutsche Angst vor allem Fremden. Und vor allem: "Geht sie weg, wenn man zusperrt?"

Feinsinnig und vollkommen unaufgeregt sezierte der studierte Politikwissenschaftler und Philosoph bundesdeutsche Wirklichkeit zwischen Fußball, Tatort und Volksmusik. Der Dreiklang aus Brot und Spiele, Aufklärung und Herzilein-Heimatland war sein Türöffner vom Privaten in die große Politik.

Da bekommt der "bayerische Heimat-Horst", für den sich Jochimsen seit seiner Jugend verlässlich geschämt habe, genauso sein Fett weg wie Sahra Wagenknecht, die Kanzlerin oder Donald Trump, zu dem im Vergleich Bush beinahe schon vernünftig erscheine. Jochimsen machte es an der jeweiligen Bezugsgröße fest. Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn wir uns lautstark und anhaltend über die nächtlichen Ereignisse auf der Kölner Domplatte echauffieren, aber den Kindesmissbrauch hinter heiligen Mauern eher beiläufig kommentieren?

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Die Pointen liegen bei Jochimsen nicht auf dem Tablett. Sie offenbaren sich so manches Mal durch eine zu lange Pause im Redefluss, einen kurzen Nachsatz oder einfach nur durch Auslassung erwartbarer Vokabeln. Der Germanist zeichnete ein Bild unserer von alten Männern regierten und gelenkten Welt, das dank seiner hintergründigen Ironie zur aktuellen Standortbestimmung wird. Weit entfernt von lauten Schenkelklopfer-Kalauern nahm er neuste Wahlergebnisse im Osten der Republik genauso in den Fokus wie Carsharing und Biowahn oder Pkw-Maut und Talkrundeneinerlei.

Nachdenklich erlaubte sich der aufmerksame Beobachter Jochimsen die Frage: "Warum müssen in der Politik immer so Pfeifen dabei sein?" Es wäre an der Zeit, meinte er, sich selbst ein Bild zu machen und es den Kindern gleich zu tun, die angstfrei und neugierig nicht davonlaufen. Sein scheinbar harmloses Äußeres täuschte nicht darüber hinweg, dass sich hinter seiner gleichsam vorsichtig-freundlichen Konversation der Teufel im Detail versteckte.

Glücklicherweise gab Jochimsen auch seinen musischen Talenten in dem zweistündigen Programm ausreichend Raum. Mit Xylofon, Gitarre und Ziehharmonika hintertrieb er seine teils bitterböse Satire mit zur Schau gestellter Kleinbürgerlichkeit. Es bedurfte schon einiger Konzentration und Aufmerksamkeit in seinen Liedern "Heimatland" und "Die Russen kommen" das tiefernste politische Statement und die bissige Botschaft herauszufiltern. Doch Jochimsen steht eben nicht für seichte Comedy. Er legte den Finger in die Wunden unserer Zeit. Und dafür schreckte er auch nicht davor zurück, sich zusammen mit seinem Publikum in die Niederungen eines "nachhaltigen Denkschlamms" sinken zu lassen.

Die Einleitung der Pause sowie die Zugabe am Ende gestaltete der leidenschaftliche Fotograf mit banal-grotesken und sensationell skurrilen Bildern, die ganz altmodisch als Diaschau präsentiert wurden. Mit präziser Beobachtung und einem feinen Gespür für Witz setzte er Stadtlandschaften mal aberwitzig hässlich, mal melancholisch traurig, aber immer unfreiwillig komisch in Szene.

Ort des Geschehens

Am Ende konstatierte Jochimsen: Früher ist rum, heute ist geschlossen und was wird morgen sein? Wie könnte die Zukunft aussehen? Nur weil sich die alten Männer unserer Zeit die Zukunft nicht mehr vorstellen können, fragte Jochimsen, ist sie deshalb verloren? Mit seinem "Guten Abend, gute Nacht" forderte er alle Zuhörer spitzbübisch auf, mal wieder zu träumen. Allerdings mit der wohlmeinenden Forderung: "Wir dürfen nie aufhören, Fragen zu stellen, aber wir müssen auch die Antworten aushalten können!"

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