Dr. Harald Genzwürker warnt vor Engpässen auf Intensivstationen
"Steigen die Zahlen weiter, drohen auf den Intensivstationen wieder Engpässe", warnt der Ärztliche Leiter der Neckar-Odenwald-Kliniken. Er appelliert an die Vernunft und an das Verantwortungsbewusstsein.

Neckar-Odenwald-Kreis. (rüb) Die Infektionszahlen steigen im Kreis, aber von einer dramatischen Lage in den Kliniken, wie es sie im Dezember gab, als die Kapazitäten für Corona-Patienten fast ausgereizt waren, sind wir aktuell glücklicherweise noch entfernt. Der Ärztliche Leiter der Neckar-Odenwald-Kliniken, Privat-Dozent Dr. Harald Genzwürker, warnt aber davor, dass Engpässe auf den Intensivstationen drohen, wenn der Anstieg der Zahlen nicht gestoppt wird.
Die Zahl der Neuinfektionen steigt bundesweit stark an, aber auf den Intensivstationen ist die Lage entspannter als im Dezember. Auch in Buchen und Mosbach?
Nach einer sehr kurzen "corona-freien" Phase behandeln wir mittlerweile wieder Patienten mit Sars-CoV-2 auf den Intensivstationen, auch mit Beatmung. Aktuell haben wir 18 positiv getestete Patienten und vier Verdachtsfälle – und damit haben wir gleichzeitig den Spitzenwert aus dem Frühjahr 2020 erreicht.
Welche Entwicklung erwarten Sie hier für die nächsten Wochen?
Es ist absehbar: Die Zahlen in den Kliniken hängen etwa zwei bis drei Wochen nach, da haben wir ja mittlerweile leider Erfahrung. Steigen die Infektionszahlen weiter im derzeitigen Maß, sind Engpässe auf den Intensivstationen garantiert.
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Ist an der Patientenstruktur ablesbar, dass die Impfungen wirken – sprich: Behandeln die Kliniken jetzt im Vergleich zum Herbst/Winter eher jüngere Patienten?
Ja, das Patientenalter ist etwas gesunken. Allerdings wirkt sich hier neben der Impfung noch ein weiterer Effekt aus: Nach den Ausbrüchen in Pflegeeinrichtungen während der ersten und ganz besonders zweiten Welle wurden viele Ältere infiziert, und es waren auch etliche Todesfälle zu beklagen.
Man hört und liest, dass nun – durch die britische Mutation – verstärkt auch Kinder infiziert werden und erkranken. Ist diese Tendenz auch bei uns feststellbar?
Es ist noch zu früh, um dies für den Neckar-Odenwald-Kreis abschließend zu bewerten, aber nach den Informationen aus dem Gesundheitsamt scheinen sich die Erkenntnisse über die Mutationen auch hier zu bestätigen. Zumindest werden derzeit doch mehr Infektionen von Kindern als noch in der ersten und zweiten Welle berichtet – deshalb ergibt es Sinn, dass sich auch Kinder durch einfache medizinische Masken oder FFP2-Masken zu schützen. Aus wissenschaftlicher Sicht spricht nichts dagegen, und so werden auch die Familien der Kinder geschützt.
Nach einem Jahr Pandemie sind viele Menschen "corona-müde". Haben Sie Verständnis dafür?
Mein Verständnis ist groß – uns geht es ja in den Kliniken nicht anders. Der Wunsch nach dem Normalzustand vereinigt uns durch alle Bevölkerungsgruppen, aber es hilft ja nix: Wir müssen weiter da durch, wir müssen alles daransetzen, vermeidbare Infektionen zu verhindern. Nur so werden wir irgendwann in einer "neuen Normalität" ankommen.
Wie sieht es an den Kliniken aus: Wie stark sind die Beschäftigten nach einem Jahr Dauerbelastung durch Corona mitgenommen?
Mit den Impfungen ist ein wichtiger Schritt getan, da zumindest die Sorge vor eigener schwerer Erkrankung gemindert wird. Ansonsten ist die Belastung gerade im Pflegebereich spürbar, da den Mitarbeitern auf den Intensiv- und Isolationsstationen besonders viel abverlangt wurde. Dazu kommen natürlich noch die wirtschaftlichen Herausforderungen und die damit verbundenen Umstrukturierungsprozesse, die in allen Bereichen zusätzliche Anstrengungen erforderlich machen.
Die Hoffnung war groß, dass wir im Frühjahr 2021 in Sachen Pandemie viel weiter sind. Welche Schuld trägt die Politik, dass es nicht so gekommen ist?
Wenn "die Politik" eine Schuld trägt, dann aus meiner Sicht allenfalls durch das mehrfache zu frühe Lockern auf öffentlichen Druck. In der Kommunikation gab es sicher erhebliche Defizite, und die teilweise nicht nachvollziehbare Logik der Öffnungen oder Schließungen in verschiedenen Bereichen haben sicher die Akzeptanz der Maßnahmen beeinträchtigt – man denke nur an die Schließung kleiner Ladengeschäfte mit durchdachten Hygienekonzepten bei gleichzeitiger Öffnung großer Einkaufsmärkte.
Was muss die Politik nun tun, damit wir gut durch die dritte Welle kommen?
Ich muss derzeit häufig an den berühmten Satz von John F. Kennedy denken: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!" Der Staat, die Politik ist nicht der Dienstleister, der die Dinge für uns regelt – jede und jeder Einzelne ist doch auf der Basis seiner persönlichen Entscheidungsfreiheit nicht nur für sein Leben, sondern auch für das der anderen verantwortlich und muss deshalb auch Einschränkungen akzeptieren. Die Kliniken generell sind neben der Vernunft der Menschen allerdings auch darauf angewiesen, dass eine Konzentration auf die Pandemiebewältigung ermöglicht wird, ohne gleichzeitig permanent auf die wirtschaftlichen Folgen schielen zu müssen.
Was halten Sie persönlich von Öffnungsschritten in Modellregionen wie in Tübingen oder im Saarland? Kann das ein Weg sein?
Ganz aktuell zeigt sich, dass die Modellprojekte scheitern – zum einen an organisatorischen Schwächen, zum anderen aber daran, dass sie erneut auf einen Aspekt setzen, der sich ja seit über einem Jahr als Schwachpunkt erweist: der gesunde Menschenverstand. Während eine breite Mehrheit der Bevölkerung die Einschränkungen als notwendig versteht, gibt es eine eigenartige Mischung Unzufriedener, die aus einer Ich-bezogenen Sicht auf persönliche Freiheit pochen und damit schlussendlich die Freiheit aller beschränken.
Werden wir in Deutschland einen halbwegs normalen Sommer erleben?
Es ist derzeit schwer absehbar, wie sich die zahlreichen Effekte auswirken: Impfungen, Kontaktvermeidung, wärmeres Wetter mit mehr Aufenthalt im Freien sollten für einen Rückgang der Infektionszahlen sorgen. Dem steht die aktuelle Entwicklung mit ansteckenderen Virusvarianten gegenüber, deren Ausbreitung ja gerade erst so richtig Fahrt aufnimmt.
Haben Sie Ihren Sommerurlaub schon gebucht?
Ja – wie letztes Jahr am Meer mit der Möglichkeit, Kontakte zu anderen Menschen zu minimieren. Wie alle brauchen auch wir eine Perspektive um durchzuhalten und Dinge, auf die sich hinzuarbeiten lohnt.



