Eberbach

Als der spätere Reichskanzler zu Besuch war

Das privates Gästebuch von Bürgermeister Dr. John Gustav Weiss wurde der Stadt übergeben. Das Haus an der Itter steht zum Verkauf.

11.05.2022 UPDATE: 12.05.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 29 Sekunden
Blick von der Itter auf das Steinhaus. 1898 von Dr. Weiss aufgenommen. Repro: rho

Von Rainer Hofmeyer

Eberbach. Nicht alles, was Eberbacher Zeitgeschichte ist, findet sich in den amtlichen Archivbeständen. Viel Interessantes dürfte auch noch heute in privater Hand zu finden sein. Und so ist es wichtig, dass auch erkannt wird, wenn das eine oder andere nicht weggeworfen werden sollte, sondern eher den Weg ins städtische Archiv finden müsste.

Das private Gästebuch des ehemaligen Eberbacher Bürgermeisters Dr. John Gustav Weiss (Amtszeit 1893 bis 1927) ist solch ein Kleinod. Es gehört zu seinem 1898 fertiggestellten Sandsteinhaus bei der Itterbrücke und ist heute noch erhalten. Erbaut im englischen Tudor-Stil, steht das Haus dieser Tage zum Verkauf. Dipl.-Ing. Urs Nedbal ist der augenblickliche Eigentümer. Er übernahm das Anwesen 1983.

Nedbal hat das Gästebuch am Mittwochnachmittag dem Eberbacher Bürgermeister Peter Reichert übergeben. Jetzt kommt es ins Stadtarchiv. Bürgermeister Weiss ist schließlich die Persönlichkeit, die während ihrer langen Amtszeit den Grundstock für ein effizientes Archivwesen in Eberbach legte. Er schrieb die Stadtgeschichte, die noch heute Ausgangspunkt für die weitere Forschung ist. Das von Weiss gegründete Eberbacher Geschichtsblatt ist das zweitälteste noch heute herausgegebene, zumindest in Nordbaden.

Horst Schlesinger, Sigrun Zeidler-Paas und Marius Golgath (hinten v.l.), Urs Nedbal, Inge Nedbal und Peter Reichert (vorne v.l.) bei der Übergabe des Buches. Foto: Marcus Deschner

Bürgermeister Weiss wohnte noch nach Ende seiner Amtszeit 1927 im markanten Steinhaus. Bis zu seinem Tod 1943. Seine verwitwete Schwiegertochter, die Dichterin Margret Weiss lebte ab 1942 und noch bis 1965 dort. Ab 1952 hatte Margret Weiss Gesellschaft von Hilde Socolean, der Tochter von John Gustav Weiss. Die war nach ihrem eigenen Ruhestand nach Eberbach umgesiedelt.

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Im ersten Jahr nach Amtsende 1973 war Bürgermeister Dr. Hermann Schmeißer aus seiner Dienstwohnung in der Friedrich-Ebert-Straße ausgezogen. Er verbrachte seinen Lebensabend fortan an der Itter. Nach 1978 gab es für fünf Jahre einen neuen Eigentümer.

Im Jahr des Einzuges 1898 machte Weiss den ersten Eintrag in seinem Gästebuch, zusammen mit seiner Frau Berta, eine Widmung. Die Schwiegertochter Margret Weiss schrieb 1945 die letzten Zeilen. 77 Jahre also wurde das Gästebuch damals bis heute gehütet.

Die meisten Eintragungen bezogen sich auf die Jahre 1898 bis 1913, ohne Unterbrechung. Wenige Vermerke gab es dann in den Kriegsjahren 1915 und 1916. Eine ganze Liste von Gästen hat Weiss für die Jahre 1903 bis 1937 nachgetragen. Zuletzt war er schon lange kein Bürgermeister mehr. Mehrere Male hat Weiss während seiner Amtszeit den Gemeinderat zu einem "Raths-Imbiss" in sein Haus eingeladen.

Neben Besuchern aus dem Kreise der eigenen Familie, neben zahlreichen seitenlangen dankbaren Einträgen im Zusammenhang mit dem jeweils längeren Aufenthalt von Kindern aus französischen Familien im Zeitraum von 1901 bis 1913: Es gab zahlreiche wichtige Gäste aus Politik und Wissenschaft, deren Namen Eintrag in das Buch gefunden haben. Auffallend ist der Kontakt mit mehreren Ägyptologen und dem Direktor des Römisch-Germanischen Nationalmuseums in Mainz. Zwei Mannheimer Oberbürgermeister haben Weiss besucht, aus seiner Geburtsstadt. Die Oberbürgermeister von Heidelberg und Lörrach kamen zu ihm nach Hause.

Alfred Freiherr von Adelsheim besuchte mit Weiss seinen ehemaligen leitenden Beamten. Weiss war nach Militärdienst und Promotion bis zu seinem Amtsantritt in Eberbach Rentamtmann bei den Herren von Adelsheim gewesen. 1913 war der letzte Oberamtmann des Eberbacher Bezirksamtes zu Gast. Das Bezirksamt wurde 1924 aufgelöst.

Prinz Max von Baden besuchte 1916 Weiss in seinem Eberbacher Haus. Max von Baden wurde am 3. Oktober 1918 vom Kaiser zum Reichskanzler ernannt. Schon am 9. November verkündete Max von Baden eigenmächtig die Abdankung des Kaisers und gleich den Thronverzicht des Kronprinzen. Max übergab die Reichskanzlerschaft an Friedrich Ebert.

Weiss empfing Professoren jüdischer Herkunft und zwei herausragende Frauenrechtlerinnen. Der Einblick in das Gästebuch gibt somit auch Hinweise auf die politische Ausrichtung von Weiss. Er war geprägt vom badischen Liberalismus innerhalb der Monarchie.

Nach einer ersten Durchsicht bewertete Stadtarchivar Dr. Marius Golgath die Eintragungen im Gästebuch von John Gustav Weiss. Danach unterstreichen sie neben den Beziehungen zur englischen Herkunft der Familie und guten Verbindungen nach Frankreich insbesondere ein weltoffenes Wesen des Ehepaares Weiss.

Es gibt jedoch auch traurige Momente, die im Gästebuch niedergeschrieben sind. Als die Dichterin Margareta Weiss 1945 ganz allein im Steinhaus an der Eberbacher Itter verblieben war, schrieb sie melancholische Verse nieder, die sie 1956 in ihren Gedichtband aufnahm: "Einem Kinde zum Gedächtnis".

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