"Notfalls gehe ich ins Gefängnis"
Raul Semmler kämpft mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen für den Klimaschutz.



Schauspieler, Drehbuchautor und Klima-Aktivist
Von Alexander Albrecht
Mannheim/München. Es läuft die 17. Minute beim Top-Spiel der Fußball-Bundesliga zwischen Bayern München und Borussia Mönchengladbach am vergangenen Samstagabend, als fünf Klima-Aktivisten der "Letzten Generation" sich an den Torpfosten der Allianz-Arena festmachen wollen. Doch nur einer – ein Heidelberger Student – schafft es, sich an den Balken zu kleben.
Raul Semmler kommt erst gar nicht auf den Rasen, sondern verletzt sich beim Sturz vom Dach der Bayern-Bank. Der 37-jährige Mannheimer ist eigentlich Schauspieler und Drehbuchautor, spielte unter anderem am Maxim-Gorki-Theater, trat bei den Nibelungenfestspielen auf und stand für Krimi-Serien und dem Kinofilm "Die Päpstin" vor der Kamera. Seit Anfang des Jahres hat er sich überwiegend der "Letzten Generation" verschreiben – mit allen Konsequenzen.
Wie geht es Ihnen, Herr Semmler?
Bei mir sind zwei Dornfortsätze an der Lendenwirbelsäule gebrochen. Ich bin aber sehr glücklich, dass ich mich schon vier Tage nach der Aktion etwas besser bewegen kann und beim Schlafen oder Aufstehen weniger Schmerzen habe. Andererseits bin ich auch traurig, weil ich in den nächsten sechs Wochen viel weniger tun und mich dafür einsetzen kann, dass unsere Regierung angesichts der Klimakatastrophe endlich etwas tut.
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Welche Erinnerung haben Sie von der Aktion?
Ich bin nicht so oft bei Fußballspielen. Ehrlich gesagt, war ich wahnsinnig aufgeregt, vor so vielen Menschen Mut und Entschlossenheit zu zeigen. Das ist noch einmal eine ganz andere Sache, als sich auf die Straße zu kleben oder eine Pipeline abzudrehen. Ich bin auf das Dach der Bayern-Bank gestiegen und wollte gerade den nächsten Schritt setzen und aufs Spielfeld springen, als mich ein Ordner am Bein festgehalten hat. Daraufhin bin ich unten gegen irgendwas geknallt.
Wie ging es dann weiter?
Als ich später mit dem Sanitäter vom Platz gegangen bin, haben mich Zuschauer übel beleidigt und bedroht. Während ich bei der Behandlung am Boden lag, sind sämtliche Menschen um mich herumgegangen – bis auf Lothar Matthäus. Er stieg als einziger über mich und schaute mir irritiert bis erbost in die Augen. Einer von der Trainerbank ging noch zu den Ordnern und verlangte, darauf aufzupassen, dass ich bloß nicht alleine weggehe. Keiner von denen hat gefragt, wie es mir geht.
Der FC Bayern will Sie wegen Hausfriedensbruchs anzeigen. Haben Sie schon etwas von den Behörden gehört?
Nein, solche Verfahren gehen ja dann an die Staatsanwaltschaft und dauern zum Teil monatelang. Ich muss aber sagen, dass wir Fünf von den Ordnern und später von den Polizisten nicht als Bedrohung angesehen wurden. Die waren sehr deeskalierend und haben sich gleich nach unserem Befinden erkundigt. Wir sind ja immer friedlich, und die Polizei hat uns sofort als "Letzte Generation" erkannt.
Aufmerksamkeit haben Sie in der Kurpfalz durch Ihre Aktionen erhalten, bei denen Sie und Ihre Mitstreiter sich auf Straßen klebten und Fahrzeuge blockierten. Treffen Sie damit nicht die Falschen beziehungsweise Menschen, die Sie als Unterstützer bräuchten?
Wir brauchen alle Menschen als Unterstützer. Es trifft zufällig Leute, die gerade im Auto sind. Das könnte genauso mein Nachbar sein. Das ist ärgerlich für sie, letztendlich sind wir aber alle von der Klimakatastrophe betroffen. Die Frage ist, ob jene, die sich ein Auto leisten und Benzin oder Diesel kaufen können, wirklich die einfachen Menschen sind, von denen wir immer reden. Oder ob es nicht die Leute sind, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind und sowieso schon durch die Subvention fossiler Rohstoffe und der Ölkonzerne, wie beim Tankrabatt, benachteiligt werden.
Sie gehen aber erhebliche Risiken ein. Rettungswagen könnten nicht durchkommen oder ein wütender Autofahrer die Demonstranten anfahren.
Wir bereiten die Menschen, die mit uns auf die Straßen gehen, sehr gut darauf vor, zu deeskalieren und die Situation richtig einzuschätzen. Wir lassen Notfälle und Krankenwagen durch. Es gibt keinen erwiesenen Fall, wo das nicht möglich war. Wir möchten keine Menschenleben gefährden – ganz im Gegenteil zu unserer Bundesregierung. Wir hatten in diesem Jahr wieder eine fünfstellige Zahl an Hitzetoten, und die wird auch weiter steigen. Und wir haben unglaubliche Probleme mit der Dürre und Wasserknappheit. Ich glaube, es ist teilweise in der Politik und der Bevölkerung noch nicht angekommen, dass das die großen Gefahren sind – und nicht, ob jemand eine halbe Stunde zu spät zum Termin kommt. Staus hat es immer gegeben.
Der Berliner Protestforscher Christian Volk empfiehlt Ihrer Bewegung, sich besser an konkrete Adressaten zu wenden. Hat er da Recht? Oder fühlen Sie sich gegenüber der Politik machtlos?
Nein, sonst würde ich es nicht machen. Wenn man den Alltag stört, dann richtet man sich auch an die Politik. Die Klimagerechtigkeitsbewegung hat in den vergangenen Jahrzehnten ja alles probiert – 40 Jahre normaler Demonstrationen liegen ja hinter uns. Erst 2019 waren 1,4 Millionen Menschen mit Fridays for Future auf der Straße, Kinder haben die Schule geschwänzt. Was sollen wir denn noch alles tun, wo man uns ignorieren kann? Wir waren in den Ministerien, wir waren vor dem Bundestag und vor dem Kanzleramt. Ich habe selbst Pipelines abgedreht und muss dafür möglicherweise 250.000 Euro Strafe zahlen, weil ich danach darüber geredet, Videos und Fotos geteilt habe. Oder ich muss ein halbes Jahr in Haft. Wir haben so viel gemacht, und es ist trotzdem so wenig passiert. Deswegen müssen wir im Herbst wieder auf die Straße und stören.
Sind Ihnen Initiativen wie Friday for Future oder Extinction Rebellion nicht radikal genug?
Ich fand es toll, was sie gemacht haben. Manche sind von den "Fridays" zu Extinction Rebellion gewechselt, und von denen wieder welche zu uns. Ich finde es gut, dass sich die Gruppen gegenseitig befruchten, wir haben auch schon gemeinsame Aktionen gemacht. Wir als "Letzte Generation" sind immer friedlich. Wenn sich das ändern würde, wäre ich auch nicht mehr dabei. Nur der zivile Ungehorsam bringt auf Dauer etwas.
Mein Eindruck ist, dass die Klimaschutzbewegung etwas erschöpft ist. Wie sehen Sie das?
Das war vor einem Jahr so, ja, und hing viel mit Corona und den Ausgangssperren zusammen. Das hat der Bewegung den Wind aus den Segeln genommen. Unter anderem deswegen gab es ja dann den Hungerstreik von Klimaschützern und haben wir Anfang dieses Jahr gesagt, dass wir entschlossenere Formen des Protests brauchen. Wir sehen uns da in einer Tradition mit den Freedom Riders, die sich in den 1960er-Jahren gegen die Rassengesetze gewehrt haben. Das waren wenige Menschen, die aber bereit waren, für ihre Ziele ins Gefängnis zu gehen, auch wenn die Situation heute auf anderer Ebene krass ist. Wir haben im Sommer gesehen, was unser Protest bewegen kann, wenn 250 Aktivisten immer wieder auf die Straße gehen und Straßen blockieren. Dann müssen sich die Politik, die Gesellschaft und die Medien dazu verhalten. Das ist schon ein Gewinn. Im Herbst werden wir vor allem ein Tempolimit fordern. Wir sehen ja im Ausland, dass das möglich ist und viel Kohlenstoffdioxid einspart.
Sie haben sich am Samstag verletzt, waren häufiger in Polizeigewahrsam und die Justiz ist hinter Ihnen her. Was sagen Ihre Freunde und Ihre Familie dazu?
Ich habe die Entscheidung Anfang des Jahres, notfalls ins Gefängnis zu gehen, unter anderem für meine Nichte und meinen Neffen getroffen. Die sind zehn und 13 Jahre alt. Ich habe daran gedacht, wie das ist, wenn die mich in zehn oder 15 Jahren fragen, warum wir die Klimakatastrophe nicht abgewendet haben. Wir haben jetzt noch zwei bis drei Jahre Zeit, die Situation zu ändern, wie zum Beispiel der Weltklimabericht und UN-Generalsekretär Guterres sagen. Das ist der viel größere Part als Repressionen gegen mich. Das sehen meine Frau, meine Mutter, meine Nichte, mein Neffe – meine ganze Familie – so. Die stehen hinter mir.
Wissen Sie, wie viele Verfahren aktuell gegen Sie laufen?
Ich habe wegen Blockaden in Berlin 30 bis 40 Schreiben bekommen, und auch aus Hamburg und Frankfurt. Und dann gibt es die Pipeline-Geschichten. Vielleicht sind es um die 50, genau kann ich das nicht sagen.
Verurteilt worden sind Sie bislang noch nicht, aber es werden wohl Strafbefehle mit erheblichen Geldbußen und hohe Anwaltskosten auf Sie zukommen. Wie wollen Sie das bezahlen?
Vielleicht gehe ich in die Insolvenz, vielleicht gibt es auch Spendenkampagnen oder ich werde Geld- in Haftstrafen umwandeln lassen. Für mich ist das jedoch die kleinere Frage, weil die Kosten, die auf uns als Gesellschaft zukommen, wenn wir jetzt nicht handeln, immens sein werden. Mit diesem Wissen im Hinterkopf nicht zu handeln, ist Wahnsinn.