Helena verliert bei Unfall 2018 ihre Familie und kämpft sich zurück
Sie selbst wurde schwer verletzt. Körperlich ist sie wieder gesund. Psychisch ist es schwieriger.

Von Alexander Albrecht
Mannheim/St. Leon-Rot. Als langjähriger Verkehrspolizist ist Dieter Schäfer das, was man gemeinhin "hartgesotten" nennt. Doch es gibt einen Fall, der ihn nicht mehr loslässt, ihn gleichermaßen wütend macht wie antreibt: Der schwere Unfall mit vier Toten auf der A5 bei St. Leon-Rot am 12. Februar 2018 geht als "schwarzer Rosenmontag" in die Regionalgeschichte ein.
Helena hat sich am Mittag von ihren Großeltern in Karlsruhe verabschiedet und bricht mit ihrer kleinen Schwester (13) und den Eltern zurück in die rheinländische Heimat auf. "Es war ein wunderschöner Tag, wir hatten viel Spaß und waren Schlittenfahren", erinnert sich die damals 15-Jährige. Die Tour mit dem Familienauto lässt nichts Schlimmes erahnen. Es ist kühl, aber die Straßen sind trocken. Ein erfahrener Brummi-Lenker ist ebenfalls in Richtung Norden unterwegs.

Zur Rush Hour staut sich gegen 14 Uhr wegen der Dauerbaustelle am Walldorfer Kreuz wieder einmal der Verkehr ab der Anschlussstelle Rauenberg. Auch der Wagen mit Helenas Vater am Steuer ist Teil der Blechlawine. Dann geschieht es: Jäh herausgerissen aus der "Monotonie seines Fahreralltags", wie Schäfer sagt, knallt der 59-Jährige mit seinem Laster ins Stauende.
Die Wucht von 40 Tonnen schiebt zwei Autos auf einen davor stehenden Lkw. "Die Wagen wurden zwischen den Sattelzügen förmlich zermalmt", so Schäfer. In einem Auto sterben Helenas Eltern und ihre Schwester, im anderen ein 60-Jähriger.
Auch interessant
Der Tank des vorderen Lastwagens reißt auf, 10 000 Liter Schweineblut fluten die Fahrbahn. Die eintreffenden Kräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsorganisationen müssen sich nicht nur schnell einen Überblick über das schreckliche Szenario verschaffen. Sie haben auch mit dem Gestank des ausgelaufenen Bluts zu kämpfen. Nach wenigen Minuten hören die Helfer ein Röcheln aus einem Fahrzeugwrack. Es ist Helena. Die Jugendliche hat wie durch ein Wunder überlebt.
Eine Frau vom Rettungsdienst habe ihre Hand gehalten, als sie aufgewacht und wieder bei Bewusstsein gewesen sei, sagt Helena im Gespräch mit der RNZ. Sie spürte ihre Beine nicht mehr. "Kann ich jemals wieder laufen?" fragt die Teenagerin die Helferin, die ihr das nicht versprechen kann. Die zweite Frage des Mädchens muss die Frau mit einem leisen Ja beantworten.
"Sind meine Eltern und meine Schwester tot?" Begriffen hat das Helena erst später. Zu verwirrt und orientierungslos sei sie gewesen. Sanitäter hätten ihr zudem starke Schmerzmittel verabreicht, bevor die Feuerwehr sie mit Spezialwerkzeug aus dem völlig demolierten Auto schnitt.
Von da an muss Helena kämpfen. Bis heute. "Ich wurde in der BG-Unfallklinik in Ludwigshafen sofort operiert und lag eine Woche auf der Intensivstation. Nach einem Monat wurde ich in ein Kölner Krankenhaus verlegt", sagt die inzwischen 21-Jährige. Sie lebt mittlerweile bei Onkel und Tante in Bayern.
Den Ärzten ist es zu verdanken, dass Helena körperlich wieder ganz gesund wurde. Mit der Psyche ist es schwieriger. In der Kölner Klinik hat sie eine Traumaexpertin kennengelernt, der Kontakt hält nach wie vor an. Schon nach den Wochen im Krankenhaus geht Helena wieder zu Schule. Zur Ablenkung und um in den Alltag zurückzufinden. Sie schafft die Mittlere Reife und absolviert zwei freiwillige Jahre: auf der Brustkrebsstation einer Klinik und in einem Kindergarten. "Beides hat mir viel Freude bereitet", erzählt Helena.
Das sind die Aufs. Die Abs sind die quälenden Depressionen. Aufenthalte in psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen hätten sie am Leben erhalten. Auch wenn die heimtückische Krankheit wohl nie ganz verschwinden werde, wie sie ahnt: Helena hat Pläne. "Am liebsten würde ich mit Kindern arbeiten, vielleicht als Logopädin."
Aufgeben gilt nicht, "ich habe mein zweites Leben ja nicht ohne Grund geschenkt bekommen". Das Kämpferherz habe sie von ihren Eltern geerbt. "Und ich weiß, dass sie und meine Schwester jeden Tag bei mir sind." Aus dem familiären Zusammenhalt schöpft sie Kraft und Zuversicht. Das will sie nun anderen vermitteln.
"Ich möchte Menschen Mut und Hoffnung schenken, die sich in einer ähnlichen Situation befinden", betont Helena tapfer. Der stechende Schmerz lasse mit der Zeit nach, sei aushaltbar. "Tausend Dank", sagt Helena den unzähligen Lesern der RNZ, die, berührt von ihrem schweren Schicksal, 2018 Geld gespendet hatten. Das helfe ihr bis heute, da sie noch nicht richtig arbeiten könne.
Dieter Schäfer hat sein neues Buch "40 Tonnen Verantwortung" Helena gewidmet. Der damalige Chef der Verkehrspolizei im Mannheimer Polizeipräsidium war mit der schweren Kollision vor sechs Jahren nur am Rande befasst. Für einen Vortrag bei der Feuerwehr studierte er dann die Ermittlungsakten.
Als der Beamte auf den Leitenden Notarzt traf und der ihm von Helenas Frage am Unfallort – "Sind meine Eltern und meine Schwester tot?" – berichtete, habe ihn das so unvorbereitet und hart getroffen, dass er sogar eine Belastungsstörung davon trug, sagt Schäfer. Aber es hat ihn zugleich motiviert, noch mehr gegen das Sterben am Stauende zu unternehmen.
Schäfer hat den Verein "Max Achtzig – hellwach mit 80 km/h" gegründet und engagiert sich mit seinen vielen Mitstreitern aus Verbänden und dem Transportgewerbe für die "Vision Zero", also dass möglichst niemand mehr im Verkehr ums Leben kommt. In seinem jetzt vorgelegten Werk analysiert der pensionierte Polizist auch für Laien verständlich die Unfallursachen.
"Ein komplexes Bündel aus menschlichen und technischen Stressoren", wie Schäfer sagt. Alle tödlichen Unfälle am Stauende passierten "ungebremst und mit Anlauf." Das weise klar auf Ablenkung oder Sekundenschlaf beim Verursacher hin.
Leider sei die Hoffnung auf die Fahrzeugassistenten zur Vermeidung solcher Zusammenstöße etwas verpufft. "Denn jedes System ist nur so gut, wie sein Anwender", weiß Schäfer, "und hier gibt es europaweit ein eklatantes Wissensdefizit bei den Fahrern". Nur wenige würden über die Wirkung von Abstandsregeltempomat und Notbremsassistent informiert.
Da insbesondere das Assistenzsystem "nicht autonom reagieren" dürfe und vom Fahrer übersteuerbar sei, "schlägt die Unwissenheit im Notfall extrem durch". Der Algorithmus berechne den maximal letzten Bremspunkt vor dem Aufprall. "Schreckt der Fahrer durch die akustische Warnung hoch, ist er schon so nah am Stauende, dass er im Fluchtreflex das Lenkrad herumreißt." Schäfers appelliert, die Brummi-Lenker in Fortbildungen über die Gefahrensituationen aufzuklären und ihr persönliches Gefahrenradar zu schärfen.
Die unmittelbare Zielgruppe seien deshalb die Transportunternehmen. "Nur wenn wir es schaffen, diese von der ,Max-Achtzig-Idee’ zu überzeugen, haben wir auch eine Chance für sichere Fahrer", erklärt Schäfer. Industrie und Warenhandel müssten erkennen, "dass sie durch ihre eingefahrenen Abläufe Stress verursachen und zu Unfallgefahren beitragen". Und natürlich spiele, wie immer im Straßenverkehr, gegenseitige Rücksichtnahmen eine wesentliche Rolle.
Laut Schäfer starben zwischen 2020 und 2022 jedes Jahr etwa 70 Fahrer am Stauende, 2023 waren es knapp über 40. Es könnte sich ein Trend nach unten abzeichnen, hofft er. Und das hofft auch Helena. Sie hat Schäfer versprochen, für die zweite Auflage des Buchs ein zusätzliches Kapitel zu schreiben. Es soll "Die stillen Opfer" heißen.
Info: Das Buch kann unter www.hellwach-mit-80-kmh.de/ bestellt werden und kostet 11 Euro zuzüglich Versandkosten.