Viele Betroffene schweigen bei Sexualvergehen
Landespräventionsbeauftragter des Weißer Ring rät Betroffenen, das Schweigen zu brechen - Gewalt, die oft im Verborgenen bleibt

Von Sabine Hebbelmann
Rhein-Neckar. Die Dunkelziffer bei sexualisierter Gewalt ist hoch. Der Verein Weißer Ring, eine Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, geht von jährlich bis zu einer Million Taten aus. Damit würde im Schnitt jede Minute ein Mensch Opfer von sexualisierter Gewalt.
Doch viel zu oft schweigen die Betroffenen über das Erlebte: aus Angst, aus Unwissenheit, aus Scham, aus falsch verstandener Loyalität und weil die meisten Taten in den privaten vier Wänden geschehen. Partnerschaftsgewalt und häusliche Gewalt kann sich bis zum Mord und Totschlag steigern: 123 Frauen wurden laut der Kriminalstatistik 2018 von ihren Partnern umgebracht – mehr als jedes dritte Tötungsopfer.
"Viele Betroffene bringen nicht die Kraft auf, den sexuellen Übergriff zu thematisieren, vor allem, wenn er in den eigenen vier Wänden geschieht. Opfer sollten sich jedoch nie selbst die Schuld für das Verhalten des Täters geben", betont der Landespräventionsbeauftragte des Weißen Ring, Günther Bubenitschek, und will Betroffenen Mut machen, sich zu outen und sich Hilfe zu holen.

Bubenitschek ist in der Region kein Unbekannter, hat er doch die polizeiliche Präventionsarbeit im Rhein-Neckar-Raum maßgeblich vorangebracht. Als Kriminalhauptkommissar war er erst Ende Januar in den Ruhestand verabschiedet worden.
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Um die Gesellschaft zu sensibilisieren hatte der Weiße Ring sexualisierte Gewalt, die als extrem schambehaftet und immer noch gesellschaftlich tabuisiert gilt, zum Schwerpunktthema am diesjährigen "Tag der Kriminalitätsopfer" gemacht. Doch was bedeutet der Begriff eigentlich genau?
"Sexualisierte Gewalt ist ein massiver Eingriff in die Intimsphäre einer anderen Person gegen ihren Willen. Sie wird oft als Mittel zur Demütigung und Machtdemonstration angewandt", erläutert Bubenitschek und macht klar: Die Opfer leiden unter psychischen Folgen wie Angst, Vereinsamung, Depressionen oder chronischen Gesundheitsproblemen. Die Belastung quält die Betroffenen oft viele Jahre, manchmal das ganze Leben lang. Betroffene Frauen und Männer befinden sich in einer Ausnahmesituation, die sie als bedrohlich und demütigend empfinden.
Sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen findet täglich und überall, häufig auch innerhalb der eigenen Familie, statt. Schätzungen zufolge erfährt jedes fünfte Mädchen und jeder neunte Junge vor dem 18. Geburtstag (mindestens) einmal sexuelle Gewalt, die der Gesetzgeber als Straftat einstuft – also Nötigung, Missbrauch, Exhibitionismus oder Vergewaltigung. Nicht selten beeinflusst das Erleiden sexualisierter Gewalt den gesamten weiteren Lebensverlauf.
Hintergrund
Häusliche Gewalt umfasst alle Formen körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt zwischen Personen, die zusammen leben. Dazu gehören Demütigungen, Beleidigungen, Einschüchterungen, Erpressung, Mobbing und Freiheitsberaubung. Der Ort des Geschehens kann in der Wohnung
Häusliche Gewalt umfasst alle Formen körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt zwischen Personen, die zusammen leben. Dazu gehören Demütigungen, Beleidigungen, Einschüchterungen, Erpressung, Mobbing und Freiheitsberaubung. Der Ort des Geschehens kann in der Wohnung liegen oder außerhalb, wie zum Beispiel auf der Straße, im Geschäft, auf dem Spielplatz oder der Arbeitsstelle.
Fast alle Formen häuslicher Gewalt stellen Handlungen dar, die gesetzlich unter Strafe stehen. Häusliche Gewalt ist daher keine Privatsache.
Bubenitschek rät Betroffenen, unbedingt mit Personen ihres Vertrauens über das traumatische Gewaltereignis zu sprechen, ärztliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen oder sich Hilfe zu suchen, zum Beispiel beim Weißen Ring. Über das kostenfreie Opfertelefon (Nummer 116.006, täglich von 7 bis 22 Uhr) ist der Opferhilfeverein auch in der aktuellen Krise ansprechbar. Er bietet persönlichen Beistand für von Kriminalität Betroffene, kostenlose Beratungsschecks für anwaltliche, psychotraumatologische Erstberatung sowie anonyme Spurensicherung.
Als weitere Adresse empfiehlt Bubenitschek die Beratungs- und Koordinierungsstelle Psychosoziale Notfallversorgung Rhein-Neckar (BeKo Rhein-Neckar). Sie wurde vor gut einem Jahr in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt (Awo) eröffnet und wird vom Rhein-Neckar-Kreis, den Städten Heidelberg und Mannheim sowie den drei Präventionsvereinen und dem Polizeipräsidium Mannheim finanziert. Erreichbar ist sie telefonisch unter der Nummer 06 221/ 73 921 16 oder per Mail unter mail@beko-rn.de.
Jugendliche, die Opfer oder Zeugen von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind, können im Childhood-Haus vorstellig werden. Der Weiße Ring kooperiert mit dieser Einrichtung, die vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg getragen wird. In einem geschützten Umfeld arbeiten die Institutionen der Jugendhilfe, Polizei und Justiz mit dem betreffenden Kind oder Jugendlichen an der Fallabklärung. Videoaufzeichnungen der Vernehmung durch einen Richter können dem Opfer eine Zeugenaussage in der Hauptverhandlung ersparen.



