Hardheimer Bürgermeister Rohm: "Die Flüchtlinge haben es als Hilfe wahrgenommen"

Im Interview verteidigt Bürgermeister Volker Rohm seinen umstrittenen Leitfaden und übt scharfe Kritik am Land - Viel Zustimmung erfahren

16.10.2015 UPDATE: 17.10.2015 06:00 Uhr 4 Minuten, 2 Sekunden

Für Volker Rohm sind die Benimmregeln ein Beitrag zur Willkommenskultur. Foto: Schmidt

Von Alexander Albrecht und Rüdiger Busch

Hardheim. Mit ihrem "Leitfaden für Flüchtlinge" hat die Gemeinde Hardheim vor einer Woche ein bundesweites Medienecho ausgelöst. Während der "Benimmkatalog" von vielen überregionalen Zeitungen und auch in Fernsehbeiträgen zum Teil heftig kritisiert wurde, gab es von den Lesern und Zuschauern überwiegend positive Reaktionen. Wir haben mit Bürgermeister Volker Rohm (53) über das gewaltige Blätterrauschen und die besondere Belastung seiner Gemeinde gesprochen: Im 4600 Einwohner zählenden Ort Hardheim leben inzwischen 1000 Flüchtlinge. Die seit mehr als 20 Jahren vom Landkreis betriebene Gemeinschaftsunterkunft in der ehemaligen US-Kaserne bietet Platz für 350 Asylsuchende. Hinzu kommen seit vier Wochen zudem vier Gebäude der Bundeswehrkaserne, die als Landeserstaufnahmeeinrichtung mit derzeit 650 Plätzen genutzt werden.

Hand aufs Herz, Herr Rohm, hätten Sie den Leitfaden auch verfasst und veröffentlicht, wenn Ihnen klar gewesen wäre, welchen Rummel Sie damit auslösen?

Ja, weil es eigentlich gedacht war als eine Dokumentation gegenüber den Bürgern. Dass die von den Hardheimern an mich und die Verwaltung herangetragenen Vorkommnisse, Sorgen und Befürchtungen aufgenommen und wahrgenommen werden - und man das den Flüchtlingen auch mitteilt. Ich habe den in einfachen Sätzen gehaltenen Leitfaden als verständliche Form der Willkommenskultur gesehen.

Kritiker werfen Ihnen vor, Sie transportierten Vorurteile über Flüchtlinge. Was antworten Sie darauf?

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Das ist die Meinung der überregionalen Medien, der Normalbürger sieht das ganz anders. Die Journalisten von auswärts sollten sich mehr an dem orientieren, was die betroffenen Menschen im Ort beschäftigt und bewegt.

Wie waren denn die Reaktionen vor Ort?

Ich habe in Hardheim - vorwiegend mündlich - sehr große Zustimmung und Rückendeckung erfahren. Ähnlich war es bei den Zuschriften, die mich aus ganz Deutschland erreicht haben.

Und was sagen Ihnen die Flüchtlinge?

Ich habe mit einigen gesprochen und ihnen den Leitfaden persönlich auf Englisch übersetzt. Deutlich zu spüren war: Er ist nicht als Bevormundung und nicht als eine Unverschämtheit angekommen, sondern von den Flüchtlingen als eine Art Hilfe wahrgenommen worden. Insofern, dass ihnen das eine oder andere nicht bewusst war. Ich denke zum Beispiel an das Öffnen von Ware im Supermarkt, bevor sie bezahlt worden ist. Da hatten sich manche Leute tatsächlich nichts dabei gedacht. Es gab aber auch Menschen, die angebrochene Lebensmittel einfach wieder ins Regal gelegt haben.

Nun war der Leitfaden eine Antwort auf tatsächliche Vorkommnisse und Probleme in Hardheim. Wie ist die Situation aktuell, gut vier Wochen nach der Inbetriebnahme der Landeserstaufnahmestelle in der Bundeswehrkaserne?

Es gibt nicht nur in Hardheim Probleme. Die dargestellten Missstände sind deutschlandweit bekannt und wurden von sehr vielen Kommunen zwischenzeitlich bestätigt.

Was läuft schief in Hardheim?

Durch die Zusammenarbeit mit dem Betreiber Ciborius hat sich inzwischen manches gewandelt, manches ist angekommen. Aber es sind die berühmten schwarzen Schafe, die unter Umständen die ganze Herde verderben. Es sind Einzelne, die sich noch immer nicht an unsere Regeln gewöhnt haben. Aber ich bin guter Dinge, dass uns das noch gelingt.

Was genau werfen Sie diesen schwarzen Schafen vor?

Es wird nach wie vor beklagt, dass manche ihre Notdurft grundsätzlich dort hinterlassen, wo sie gerade stehen und gehen - unabhängig davon, ob es ein öffentlicher Platz, ein Privatgelände, der Grünbereich unserer Schule oder Parkflächen des Krankenhaues sind. Die Müllsituation ist deutlich besser geworden, was daran liegt, dass die Flüchtlinge auf Initiative des Betreibers den Abfall entlang des Fußwegs ins Ortszentrum mindestens zweimal pro Woche einsammeln.

Sie fühlen sich von den Verantwortlichen des Landes im Stich gelassen. Woran genau machen Sie das fest?

Zum einen gibt es keinerlei Konzept, wie eine solche Einrichtung wie in der Hardheimer Kaserne auch integrativ zu betreiben ist. Es ist eine freche Ausrede, auch nach Wochen immer noch von "Krisenmodus" zu sprechen. Und es ist eine Frechheit zu sagen, man habe pro 100 Flüchtlingen einen Sozialarbeiter, einen Sozialpädagogen oder einen wie auch immer geschulten Mitarbeiter auf dem Schirm, man könnte aber diese Personen nicht zwangsrekrutieren, weil sie weder von der Zahl noch von der Ausbildung her zur Verfügung stünden. Hier hat das Land einfach viel zu lange geschlafen. Das Gleiche gilt für die Arbeit unserer Ehrenamtlichen, die eigentlich das Land leisten müsste. Hier versagt das Land total. Es enttäuscht mich, dass es in Hardheim zwar ein paar Schaufensterreden und Sightseeing-Besuche gab, aber nie in regelmäßigen Abständen abgefragt wurde, wie es denn eigentlich läuft und was geändert werden muss. Nichts davon, im Gegenteil: Oft bemühen wir uns um Kontakt zum Regierungspräsidium, die maßgeblich für uns zuständigen Leute sind dann aber gar nicht erreichbar und rufen nicht zurück.

Sie kritisieren auch die Informationspolitik.

Ja, die schlägt jedem Fass den Boden aus: 72 Stunden vorher zu erfahren, dass wir Standort einer Bedarfsorientierten Erstaufnahmeeinrichtung werden oder wenn man uns morgens um 10 Uhr informiert, dass am Nachmittag 350 Flüchtlinge erwartet werden - das ist kein Dialog, das ist Häme.

Beeindruckend war von Anfang an das ehrenamtliche Engagement in Hardheim. Müssen die Bürger das auffangen, was das Land aufgrund des ungebrochenen Zustroms aktuell nicht leisten kann?

Ich glaube, dass die Ehrenamtlichen im Moment noch in einer Euphorie und voller Adrenalin sind und sich mit einem unglaublichen Einsatz der Sache widmen. Ich versuche immer, zu transportieren, dass wir gerade einen Marathonlauf begonnen und erst 400 Meter hinter uns haben. Es gilt nicht nur, die materiellen Ressourcen wie gespendete Kleider oder Spielsachen so einzuteilen, dass wir auch noch in einem Jahr etwas haben. Wir müssen auch die Kräfte der Helfer im Auge behalten. Die Belastungen sind ja nicht nur körperlich und psychisch, sondern auch welche für die Familien. Hier werden die Ehrenamtler sicher an Grenzen stoßen. Ich hoffe, dass sie ihre Kräfte deshalb vorausschauend einteilen.

Viele Hardheimer befürchten, dass das Land die zur Schließung anstehende Carl-Schurz-Kaserne schon bald komplett für die Flüchtlingsunterbringung nutzen könnte. Es ließen sich dort wohl weitere 1000 bis 1500 Asylbewerber unterbringen. Wie ist da der Sachstand?

In der Kaserne haben wir momentan 650 Flüchtlinge. Das ist nach Aussage der Bundeswehr derzeit die Höchstzahl. Was nach einer Auflösung des Militärstandorts spätestens Mitte nächsten Jahres geschieht, das müssen wir abwarten.

Sie wurden vor knapp eineinhalb Jahren zum Bürgermeister gewählt. Hätten Sie sich vorstellen können, dass Ihr Name bundesweit in den Schlagzeilen auftaucht?

Wenn ich davon etwas geahnt hätte, wäre das eher ein Grund gewesen, nicht zu kandidieren. Wer mich kennt, der weiß, dass ich nicht das Rampenlicht suche.

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