So viele Ratten leben in Mannheims Kanalisation
Überquellende Mülleimer und weggeworfene Essensreste machen die Innenstadt für die Nager zum Eldorado

So mögen es die Ratten: Ein übervoller Mülleimer, so wie dieses Exemplar im Stadtteil Jungbusch, ist für sie eine Einladung zum Festmahl.
Von Wolf H. Goldschmitt
Mannheim. Wie viele Ratten leben eigentlich in Mannheims Kanalisation? Eine Frage, die selbst ein Experte nur ungenau beantworten kann. Der Schädlingsbekämpfer Thorsten Kaufmann schätzt die Zahl auf 300.000. "Man rechnet mindestens eine Ratte pro Einwohner, es könnten aber auch mehr sein", kalkuliert der Prokurist der Firma Auler + Haubrich, Mannheims ältestem Unternehmen für Hygienetechnik. Korrekte Daten fehlen. "Eine Plage allerdings sehe ich nicht, auch wenn die schlauen Tiere ihre Scheu vor dem Menschen verlieren und jetzt schon bei Tag gelegentlich an die Oberfläche kommen." Zum Beispiel am Paradeplatz oder in den Planken. Auch am Swanseaplatz in H 6 tummeln sich die Tierchen. Dort rückt man ihnen deshalb mit Ködern zu Leibe. Der Grund für den Rattenbesuch: zu viel achtlos weggeworfener Müll.
Aber auch andere Fehler haben Folgen. Zum Beispiel, dass die Stadt Mannheim nach Meinung des Fachmanns an der falschen Stelle spart. Laut Rathaus sind im Jahresetat der Abfallwirtschaft 50.000 Euro und bei der Stadtentwässerung weitere 35.000 Euro zur Schädlingsvernichtung vorgesehen. "Das ist natürlich viel zu wenig im Vergleich mit ähnlich großen Städten", bedauert Kaufmann. "Das Zurückdrängen der Nagetiere wird schwieriger, aufwendiger und teurer. Aber wenn es vernünftig gehandhabt wird, gibt es kein Problem", zeigt er sich zuversichtlich. Denn eigentlich sei die innerstädtische Population beherrschbar.
Mitverantwortlich für die Belästigung durch die Mäusegattung macht Kaufmann aber auch die Schutzmaßnahmen zur Verringerung des Risikos für Menschen und andere Tiere bei der Anwendung von Rattengift. Seit einigen Jahren gilt dieses EU-Recht. Demnach dürfen sich Privatleute überhaupt nicht mehr selbst helfen und müssen fachmännischen Rat einkaufen. Die Zeiten, in denen Kammerjäger selbst Köder herstellen, sind vorbei. Wer die Vorgaben genau einhalte, müsse mehr Geld von seinen Kunden für das Töten verlangen.

Ratten. Foto: Archiv
Der zertifizierte Hygienetechniker räumt ein, dass gerade in diesem heißen Sommer mehr dieser rund 40 Zentimeter langen Untergrundbewohner ans Tageslicht gekommen sind - manchmal bei Tag, manchmal in der Dämmerung. Panik hält er aber für übertrieben. Die Gefahr, dass ein Mensch von einer Ratte gebissen wird, sieht er nicht. "Ich habe noch nie davon gehört. Dafür sind sie zu scheu. Ratten sehe ich selten lebendig, die meisten, die mir unter die Augen kommen, sind aufgrund meiner Arbeit tot. Was den Menschen eher stört ist Ekel und die Furcht vor Infektionen", erklärt er.
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Im Zeitalter von Fast Food finden die Nager im Zentrum oberhalb und unterhalb des 900 Kilometer langen Kanalsystems der Stadt stets einen reichlich gedeckten Tisch. Gelbe Säcke werden immer noch an den Straßenrand gestellt und abgeholt, obwohl eigentlich Gelbe Tonnen längst ihre Aufgabe übernehmen sollten. Auch die Mülleimer in den belebten Mannheimer Einkaufsstraßen quellen oft über. Und wer weiß schon, wie viel Speisereste täglich die Toiletten hinuntergespült werden. Aber nur wenn Nahrungsknappheit herrscht, können die reinlichen Tiere mit dem schlechten Ruf, die sich übrigens täglich so häufig putzen wie Katzen, möglichst giftfrei zurückgedrängt werden.
Kaufmann weiß aber auch, dass eine Bestandsregulierung der Wirbeltiere keinesfalls durch die Tötung einzelner Ratten mittels Blutgerinnungsmittel erreicht wird. Der Versuch, die gesamte Population auf einen Schlag zu vernichten, würde an der Intelligenz der Tiere scheitern. Deswegen erscheinen die oberirdischen Fallen, die von der Stadt aufgestellt werden, aus diesem Blickwinkel lediglich wie Kosmetik zur Beruhigung der Bürger. Biologen bestätigen, dass eine größere Vernichtungsaktion Unsinn ist, da die Vermehrungsrate der Tiere nach einer solchen Aktion sofort wieder ansteigt bis die alte Menge erreicht ist.
Falsch ist allerdings der Gedanke, Ratten vermehrten sich mit mathematischer Potenz. Das wäre theoretisch richtig, da die Weibchen schon nach drei bis vier Monaten fortpflanzungsfähig sind und mehrfach im Jahr Junge zur Welt bringen können. Aber in der Realität tun sie das nie. Die hoch entwickelte Spezies passt sich nämlich an die gegebene Nahrungsgrundlage an. Nachhaltigkeit ist für sie existenziell.



